Am Anfang geht nicht viel. Es ist der heißeste Tag des Jahres, und der Junge an dem sechseckigen Tisch ist ziemlich gehemmt. Vor ihm liegen Malutensilien, hinter ihm eine Lebensgeschichte, die auch Heidi G. nur in Ansätzen kennt. Sehr extreme Gewalterfahrungen gab es, das weiß sie. Sie ermutigt ihn vorsichtig, legt ihm immer wieder neue Blätter auf den Tisch. „Er wird beim Malen schneller und schneller“, erzählt sie nach der Sitzung. Der kreative Prozess helfe ihm, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen – Wut, Zorn, Ohnmacht.
Heidi G. ist Kunsttherapeutin bei der Hilfsorganisation OlamAid und ist als solche unter anderem an der Brodowin-Schule in Berlin-Lichtenberg im Einsatz, einer Schule im Brennpunkt. Der Kunstraum mit dem sechseckigen Tisch liegt geschützt am Ende eines Korridors. Ein Ort der Entspannung, sagt sie: „Die Kinder kommen echt gerne, und sie lassen auch richtig etwas von ihren Sorgen hier.“ Dreimal in der Woche betreut sie hier kleine Gruppen von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Unterstützungsbedarf. Die meisten von ihnen haben traumatisierende Erfahrungen gemacht, etwa durch Flucht oder Krieg. Das belegt auch eine aktuelle Studie der Wübben Stiftung Bildung – demnach hat jedes dritte Kind an Schulen im Brennpunkt Traumatisches erlebt.
Das mentale Wohlbefinden stärken
Die Kunsttherapie findet im Rahmen des Projekts „Navigation“ statt, das von OlamAid in Zusammenarbeit mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) organisiert und implementiert wird. Die Hilfsorganisation wurde 2016 gegründet. „Wir unterstützen Menschen, die flüchten mussten oder von Naturkatastrophen betroffen sind“, sagt Projektkoordinator Nicolai P.. „Unser Ziel ist es, ihr mentales Wohlbefinden zu stärken und ihnen zu helfen, wieder ein positives Selbstbild zu bekommen.“
OlamAid arbeitet mit Flüchtlingsunterkünften und Schulen zusammen. Die Kooperation mit der Brodowin-Schule besteht seit 2017. Die klaren Strukturen einer Schule sind ein großer Vorteil bei der Umsetzung des Hilfsangebots: Es gibt räumliche Gegebenheiten, einen vorgegebenen Zeitplan und Unterstützung durch Lehrkräfte und Schulsozialarbeiterinnen, die an der Schule tätig sind. Eine von ihnen ist Mareike Mayer. Die Traumapädagogin hat die Zusammenarbeit mit OlamAid ins Leben gerufen. Sie ist die Anlaufstelle für die Schülerinnen und Schüler und steht gleichzeitig in engem Austausch mit den Lehrkräften und den Eltern. Im Laufe eines Schuljahres können über das „Navigation“-Projekt rund 60 Kinder an der Kunsttherapie teilnehmen. Wesentlich mehr hätten Bedarf, macht Mayer deutlich. „Viele Kinder würden von dem Angebot profitieren, nicht nur die mit Fluchthintergrund.“
 
															Setzt sich konstruktiv mit dem Thema Traumabewältigung auseinander: die Brodowin-Schule in Berlin-Lichtenberg.
 
															Schulsozialarbeiterin und Traumapädagogin Mareike Mayer und Kunsttherapeutin Heidi G. arbeiten an der Schule eng zusammen.
Wenn Bilder Sprachbarrieren verringern
Eine Sitzung im Kunstraum dauert 40 Minuten, so lange wie eine Unterrichtsstunde. Wenig Zeit sei das, sagt Heidi G., doch die Kinder würden in der Regel schnell in den Prozess einsteigen. Sie stellt ihnen allerlei Gestaltungsmaterialien zur Verfügung: Stifte und Wasserfarben, Pappe und buntes Papier, Bänder und Wolle. Doch vor allem macht sie ihnen ein Angebot: „Wir gehen zusammen in einen kreativen Dialog. Wenn sie einmal im Thema sind, entstehen manchmal richtige kleine Geschichten“, erläutert die Kunsttherapeutin.
Die Kinder finden dabei symbolische Bilder für die Dinge, die sie bewegen – ohne diese aussprechen zu müssen. Beispielsweise kann sich ein Gefühl innerer Erschütterung darin ausdrücken, dass zunächst farbenfrohe und klar konturierte Bilder plötzlich schwarz übergemalt und verschmiert werden oder dass Bildbestandteile fragmentiert dargestellt werden. Schwebende Bildelemente, die keinen Boden unter den „Füßen“ haben oder sich aufzulösen scheinen, können Hinweise auf abgespaltene traumatische Erlebnisse sein. Allgemein lassen sich über Kunst Sprachbarrieren, die mehrere Kinder an der Brodowin-Schule haben, wunderbar verringern.
Viele der Kinder haben Kontaktabbrüche und Verluste erlebt, manche waren auf der Flucht in Lebensgefahr, leiden heute unter Ängsten. In der Therapie lernen sie behutsam, den erlebten Kontrollverlust zu verarbeiten. Sie gewinnen langsam an Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit. „Es ist unheimlich schön zu beobachten, wenn Kinder plötzlich weich werden und wieder anfangen zu spielen“, sagt Heidi G.. Der geschützte Raum des Spiels zwischen Fantasie und Wirklichkeit erlaube es ihnen, schlimme Erinnerungen von innen nach außen zu transportieren, ohne davon überschwemmt zu werden. „Die Bedrohlichkeit des Themas wird abgeschwächt, Ängste werden gewissermaßen auf dem Papier festgehalten und so handhabbar“, erklärt die Kunsttherapeutin.
Manchmal fingen die Kinder von selbst an, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dann brauche es viel Fingerspitzengefühl und Expertise, um eine Retraumatisierung zu vermeiden, wie G. betont. In Fällen, in denen der Therapiebedarf den Rahmen des Projekts übersteigt, vermittelt sie die Schülerinnen und Schüler weiter an Jugend- und Kindertherapeutinnen und -therapeuten.
„Es ist unheimlich schön zu beobachten, wenn Kinder plötzlich weich werden und wieder anfangen zu spielen“
Heidi G., Kunsttherapeutin bei der Hilfsorganisation OlamAid
Kunsttherapie füllt eine Lücke im System
Mareike Mayer ist überzeugt, dass Projekte wie dieses eine wichtige Lücke im Schulsystem schließen: „Wir brauchen in der Bildung einen lebenspraktischen Blick. Psychische Gesundheit ist auch schon in der Schule ein wichtiges Thema und wird bei uns daher im Sozialen Lernen aufgegriffen, das in allen Klassen einmal pro Woche stattfindet.“ Mehr multiprofessionelle Teams an Schulen etwa würden helfen. Die Unterstützung sei für Kinder auch deswegen besonders wichtig, weil Plätze für Psychotherapie oft mit langen Wartezeiten verbunden sind, so Mayer. Hilfsorganisationen wie OlamAid können die nötigen politischen Maßnahmen nicht ersetzen – zumal sie selbst unter Druck stehen. „Im sozialen und humanitären Bereich sind die Gelder in den letzten Jahren gekürzt worden“, sagt Projektleiter Nicolai P.. Das Projekt „Navigation“ wird vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert.
Traumatisierte Kinder, die wieder anfangen zu spielen. Ängste, die im Alltag nicht mehr ganz so groß sind, weil sie im Kunstraum verarbeitet wurden. Gewalterfahrungen, die mit jedem bemalten Blatt ein wenig von ihrem Schrecken verlieren. Das Potenzial von Kunsttherapie, die jungen Menschen zu erreichen und zu stärken, die es am meisten brauchen, ist groß. Für den Jungen, der an dem heißen Sommertag erst gar nicht aktiv werden konnte, brachte die kreative Beschäftigung sogar eine kleine Katharsis, wie Heidi G. es formuliert: „Seine unterdrückten Gefühle und Wünsche fanden Ausdruck in seinen Bildern, danach war er total bei sich.“
 
											 
								 
								 
								 
								