Psychische Gesundheit

Das Trauma von der Seele malen

Viele Schulkinder haben Traumata zu bewältigen. An einer Berliner Schule kommt dafür Kunsttherapie zum Einsatz – ein Angebot der Hilfsorganisation OlamAid.

Am Anfang geht nicht viel. Es ist der heißeste Tag des Jahres, und der Junge an dem sechseckigen Tisch ist ziemlich ge­hemmt. Vor ihm liegen Malutensilien, hinter ihm eine Lebens­geschichte, die auch Heidi Gehnke nur in Ansätzen kennt. Sehr extreme Gewalterfah­rungen gab es, das weiß sie. Sie er­mutigt ihn vorsichtig, legt ihm immer wieder neue Blätter auf den Tisch. „Er wird beim Malen schneller und schnel­ler“, erzählt sie nach der Sit­zung. Der kreative Prozess helfe ihm, seinen Ge­fühlen Ausdruck zu verleihen – Wut, Zorn, Ohnmacht.

Heidi Gehnke ist Kunsttherapeutin bei der Hilfsorganisa­tion OlamAid und ist als solche unter anderem an der Brodowin-Schule in Berlin-Lichtenberg im Einsatz, einer Schule im Brenn­punkt. Der Kunst­raum mit dem sechs­eckigen Tisch liegt geschützt am Ende eines Korridors. Ein Ort der Entspan­nung, sagt sie: „Die Kinder kommen echt gerne, und sie lassen auch richtig etwas von ihren Sorgen hier.“ Dreimal in der Woche betreut sie hier kleine Gruppen von Schülerinnen und Schü­lern mit besonderem Unterstützungs­bedarf. Die meisten von ihnen haben traumatisierende Erfahrungen ge­macht, etwa durch Flucht oder Krieg. Das belegt auch eine aktuelle Studie der Wübben Stiftung Bildung – dem­nach hat jedes dritte Kind an Schulen im Brennpunkt Traumatisches erlebt.

Dreimal in der Woche betreut Heidi Gehnke an der Brodowin-Schule kleine Gruppen von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Unterstützungs­bedarf.
OlamAid-Koordinator Nicolai Pilot hat das Ziel, das mentale Wohlbefinden der Kinder zu stärken und ihnen zu helfen, wieder ein positives Selbstbild zu bekommen.

Das mentale Wohlbefinden stärken

Die Kunsttherapie findet im Rahmen des Projekts „Navigation“ statt, das von OlamAid in Zusammenarbeit mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) organisiert und implementiert wird. Die Hilfs­organi­sation wurde 2016 gegründet. „Wir unterstützen Menschen, die flüchten mussten oder von Naturkata­strophen betroffen sind“, sagt Projekt­koordinator Nicolai Pilot. „Unser Ziel ist es, ihr men­tales Wohlbefinden zu stärken und ihnen zu helfen, wieder ein positives Selbstbild zu bekommen.“
OlamAid arbeitet mit Flüchtlingsunter­künften und Schulen zusammen. Die Kooperation mit der Brodowin-Schule besteht seit 2017. Die klaren Struk­turen einer Schule sind ein großer Vorteil bei der Umsetzung des Hilfs­angebots: Es gibt räumliche Gegeben­heiten, einen vorge­gebenen Zeitplan und Unter­stützung durch Lehr­kräfte und Schul­sozial­arbeiter­innen, die an der Schule tätig sind. Eine von ihnen ist Mareike Mayer. Die Trauma­pädagogin hat die Zusammenarbeit mit OlamAid ins Leben gerufen. Sie ist die Anlaufstelle für die Schüler­innen und Schüler und steht gleichzeitig in engem Austausch mit den Lehrkräften und den Eltern. Im Laufe eines Schul­jahres können über das „Navigation“-Projekt rund 60 Kinder an der Kunst­therapie teilnehmen. Wesentlich mehr hätten Bedarf, macht Mayer deutlich. „Viele Kinder würden von dem Angebot profitieren, nicht nur die mit Flucht­hintergrund.“

Setzt sich konstruktiv mit dem Thema Trauma­bewältigung auseinander: die Brodowin-Schule in Berlin-Lichtenberg.

Schulsozialarbeiterin und Traumapädagogin Mareike Mayer und Kunst­therapeutin Heidi Gehnke arbeiten an der Schule eng zusammen.

Wenn Bilder Sprachbarrieren verringern

Eine Sitzung im Kunstraum dauert 40 Minuten, so lange wie eine Unterrichts­stunde. Wenig Zeit sei das, sagt Heidi Gehnke, doch die Kinder würden in der Regel schnell in den Prozess ein­steigen. Sie stellt ihnen allerlei Gestal­tungs­materialien zur Verfügung: Stifte und Wasserfarben, Pappe und buntes Pa­pier, Bänder und Wolle. Doch vor allem macht sie ihnen ein Angebot: „Wir gehen zusammen in einen kreativen Dialog. Wenn sie einmal im Thema sind, entstehen manchmal richtige kleine Geschichten“, erläutert die Kunst­therapeutin.

Die Kinder finden dabei symbolische Bilder für die Dinge, die sie bewegen – ohne diese aussprechen zu müssen. Beispielsweise kann sich ein Gefühl innerer Erschütterung darin aus­drücken, dass zunächst farbenfrohe und klar konturierte Bilder plötzlich schwarz übergemalt und verschmiert werden oder dass Bildbestandteile fragmentiert dargestellt werden. Schwebende Bildelemente, die keinen Boden unter den „Füßen“ haben oder sich aufzulösen scheinen, können Hinweise auf abgespaltene trauma­tische Erlebnisse sein. Allgemein lassen sich über Kunst Sprach­barrieren, die mehrere Kinder an der Brodowin-Schule haben, wunderbar verringern.

,,Wenn die Kinder einmal im Thema sind, entstehen manchmal richtige kleine Geschichten“, sagt Kunst­therapeutin Heide Gehnke, die hier ein Bild betrachtet.
Fluchterfahrungen, Ängste, Traumata: An der Berliner Brodowin-Schule hilft das Pro­gramm „Navigation“ von OlamAid betroffenen Kindern.

Viele der Kinder haben Kontakt­ab­brüche und Verluste erlebt, manche waren auf der Flucht in Lebensgefahr, leiden heute unter Ängsten. In der Therapie lernen sie be­hutsam, den erlebten Kontrollverlust zu verarbeiten. Sie gewinnen langsam an Selbstver­trauen und Selbst­wirksamkeit. „Es ist unheimlich schön zu beobachten, wenn Kinder plötzlich weich werden und wieder an­fangen zu spielen“, sagt Heidi Gehnke. Der geschützte Raum des Spiels zwischen Fantasie und Wirklich­keit er­laube es ihnen, schlimme Er­innerungen von innen nach außen zu transportieren, ohne davon über­schwemmt zu werden. „Die Bedroh­lichkeit des Themas wird abge­schwächt, Ängste werden gewisser­maßen auf dem Papier festgehalten und so hand­habbar“, erklärt die Kunst­therapeutin.

Manchmal fingen die Kinder von selbst an, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dann brauche es viel Fingerspitzen­gefühl und Expertise, um eine Re­traumatisierung zu vermeiden, wie Gehnke betont. In Fällen, in denen der Therapiebedarf den Rahmen des Projekts übersteigt, vermittelt sie die Schülerinnen und Schüler weiter an Jugend- und Kindertherapeutinnen und -therapeuten.

„Es ist unheimlich schön zu beobachten, wenn Kinder plötzlich weich werden und wieder anfangen zu spielen“

Kunsttherapie füllt eine Lücke im System

Mareike Mayer ist überzeugt, dass Projekte wie dieses eine wichtige Lücke im Schulsystem schließen: „Wir brau­chen in der Bildung einen lebens­praktischen Blick. Psychische Gesund­heit ist auch schon in der Schule ein wichtiges Thema und wird bei uns daher im Sozialen Lernen aufgegriffen, das in allen Klassen einmal pro Woche stattfindet.“ Mehr multipro­fessionelle Teams an Schulen etwa würden helfen. Die Unterstützung sei für Kinder auch deswegen besonders wichtig, weil Plätze für Psychotherapie oft mit langen Warte­zeiten verbunden sind, so Mayer. Hilfsorganisationen wie OlamAid können die nötigen politischen Maß­nahmen nicht ersetzen – zumal sie selbst unter Druck stehen. „Im sozialen und human­itären Bereich sind die Gelder in den letzten Jahren gekürzt worden“, sagt Projekt­leiter Nicolai Pilot. Das Projekt „Navigation“ wird vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert.

Der Kunstraum der Schule ist ein sicherer Ort für Kinder, um ihre Lebenserfahrung künstlerisch zum Ausdruck zu bringen.

Traumatisierte Kinder, die wieder an­fangen zu spielen. Ängste, die im Alltag nicht mehr ganz so groß sind, weil sie im Kunstraum verarbeitet wurden. Gewalt­erfahrun­gen, die mit jedem be­malten Blatt ein wenig von ihrem Schrecken verlieren. Das Poten­zial von Kunsttherapie, die jungen Men­schen zu erreichen und zu stärken, die es am meisten brauchen, ist groß. Für den Jungen, der an dem heißen Som­mertag erst gar nicht aktiv werden konnte, brachte die kreative Beschäf­tigung sogar eine kleine Katharsis, wie Heidi Gehnke es for­muliert: „Seine unter­drückten Gefühle und Wünsche fanden Ausdruck in seinen Bildern, danach war er total bei sich.“

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