Unterrichtsentwicklung

Eine Schule steht kopf

Keine Fächer oder Klassenräume, dafür selbstbestimmtes Lernen: Eine Oberschule bei Hannover geht innovative Wege. Wie das Konzept „Theo“ funktioniert.

Die Lehrkraft steht vorne und redet, alle anderen hören zu und schreiben mit. Der klassische Frontalunterricht war lange Standard in Schulen. Und ist es häufig noch. Doch es gibt ein Umdenken, weg von der klassischen Wissensvermittlung, hin zu einem vielfältigen Angebot an Lerngelegenheiten. Die Oberschule Berenbostel bei Hannover setzt diesen Ansatz seit 2020 konsequent um.

„Bei uns kann so etwas wie Lehre im Gleichschritt gar nicht funktionieren“, sagt Lehrer und Schulentwickler Jan Vedder. Etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler habe einen Förderbedarf, viele haben Deutsch nicht als Muttersprache gelernt. „Deshalb stellen wir individualisiertes Lernen hochgradig in den Fokus“, so Vedder. Die Schülerinnen und Schüler lernen in sogenannten „Theos“ statt in Fächern – und immer im eigenen Tempo.

Wie das im Schulalltag der Startchancen-Schule in Niedersachsen funktioniert und was es mit den Theos auf sich hat, zeigt der folgende Überblick.

Was ist Theo?

Theo steht für „themenorientiertes Lernen“ und ist ein fächerübergreifender Ansatz, Lerninhalte zu organisieren. „Unser Theo ist eine eigene Kreation, die aus vielen Inspirationen von anderen Schulen zusammengesetzt ist“, erklärt Jan Vedder, der das Konzept an der Oberschule Berenbostel mitentwickelt hat. Im Fokus eines Theos steht nicht ein einzelner Inhalt aus dem Curriculum, sondern ein übergeordnetes Thema, das aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird.

Beispiel: In dem Theo „Let’s have a party“ haben Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 5 und 6 die Aufgabe, eine Feier zu organisieren. Über die praktischen Fragen, die sich dabei stellen, kommen sie zu theoretischen Lerninhalten aus verschiedenen Fächern. Bei der Buffetplanung etwa geht es auch um Unverträglichkeiten und Ernährungsweisen (Biologie) sowie um religiöse Essensvorschriften. Für das Lichtkonzept gilt es, Schaltpläne zu verstehen und zu erstellen (Physik), eine nachhaltige und selbst hergestellte Dekoration führt die Fächer Kunst und Sachunterricht zusammen. „Das Thema Musik liegt natürlich auch auf der Hand“, sagt Vedder. „Welche Musikrichtungen gibt es? Wie unterscheiden die sich? Und was bedeutet eigentlich Urheberrecht?“

Pro Schuljahr durchlaufen die Jahrgänge vier solcher Theos mit je unterschiedlichen Schwerpunkten. Mathe, Deutsch und Englisch sind dabei immer vertreten. Um die Kosten für die Party zu berechnen, hilft Bruchrechnung. Und ein Flyer lässt sich natürlich auch in einer Fremdsprache formulieren.

Ein normaler Schultag startet morgens mit der Theo-Planung. Die Schülerinnen und Schüler öffnen dafür die digitale Lernplattform auf ihren Tablets und verschaffen sich einen Überblick, wo sie aktuell bei ihrem Thema stehen. In einem analogen Logbuch halten sie fest, wie sie ihren Tag gestalten wollen. Die Länge der Lernblöcke und der Pausen legen sie überwiegend selbst fest. Erst danach geht es ans Lernen.

Typische Klassenräume gibt es an der Oberschule Berenbostel nicht mehr. Die Jugendlichen haben stattdessen einen eigenen Sitzplatz mit Regal und Metallboard, vergleichbar mit einem Büroarbeitsplatz. Hier findet die Einzelarbeit statt. „Wir arbeiten zum Beispiel mit Lernvideos, die jede und jeder im eigenen Tempo und nach den eigenen Lernvoraussetzungen anschauen kann“, erläutert Vedder. Alle Lernmaterialien hat das Lehrkollegium in mindestens drei Versionen erstellt. Ein Farbcode kennzeichnet das Schwierigkeitsniveau, das jede und jeder für sich selbst wählt. „Das ‚Friss oder stirb‘ des Frontalunterrichts, bei dem alle zur gleichen Zeit das Gleiche machen müssen, gibt es bei uns nicht“, so der Schulentwickler.

Auch Zweier- und Gruppenarbeiten spielen eine wichtige Rolle in dem Konzept. Mit dem Marktplatz und dem Atelier stehen dafür verschiedene Lernlandschaften bereit. Für das Fach Englisch sind sogenannte „Speaking sessions“ im Wochenplan vorgesehen, in denen die Schülerinnen und Schüler die Sprache gemeinsam lernen und aktiv miteinander kommunizieren. Die richtige Balance aus individualisierter Einzelarbeit und kooperativem Lernen zu finden ist eine der Herausforderungen des Theo-Konzepts.

Die Schule ist 2016 durch die Zusammenlegung einer Haupt- und einer Realschule entstanden. In dem Zuge sollte sich nicht nur der Name ändern, sondern auch, wie Lernen organisiert wird, so Jan Vedder: „Unser Schulleiter hat gesagt: Wir wollen innovative Schulentwicklung betreiben und Schule gewissermaßen auf den Kopf stellen.“ Ein Teil des Kollegiums machte sich daran, das neue Konzept zu planen.

„Oberste Maßgabe war dabei Inklusion, denn wir sind eine Schule im Brennpunkt“, erinnert sich Vedder. So entstand Baustein für Baustein die Idee einer Schule, an der Jugendliche flexibel, selbstständig und gemäß ihren individuellen Voraussetzungen lernen können. Dafür galt es, die neuen Theos mit den Curricula der einzelnen Fächer in Einklang zu bringen, die diversen Materialien zu produzieren und nicht zuletzt die Eltern zu überzeugen. Auch die Schulbehörde war von Anfang an mit im Boot und hat mit Beraterinnen und Beratern für Unterrichtsqualität den Prozess begleitet und unterstützt.

Im Theo „Ein Wald voller Rätsel“ gehen die Schülerinnen und Schüler in die Natur und führen Experimente durch. „Ich habe nun öfter Zeit, mich einzelnen Schülerinnen und Schülern zuzuwenden und sie wirklich beim Lernen zu begleiten, im wörtlichen Sinne. Das sind genau die Momente, für die wir den Aufwand betreiben.“ Um die positiven Effekte sichtbar zu machen, führt die Schule aktuell eine Evaluation durch. Dabei können die Schülerinnen und Schüler Verbesserungsvorschläge einreichen. Positive Rückmel­dungen gebe es häufiger aus Betrieben, bei denen Absolventin­nen und Absolventen der Oberschule Berenbostel eine Ausbildung durchlaufen, so Vedder: „Wir hören, dass die Kids sehr selbstständig, gut organisiert und verlässlich sind.“ Überhaupt wird Theo seit der Einführung 2020 stetig weiterentwickelt. So gibt es für Mathe, Deutsch und Englisch inzwischen sogenannte Theo-Camps, die jede Woche fest im Stundenplan verankert sind. Sie entsprechen eher dem klassisch­em Fächerunterricht, es wird aber auch gemeinsam vorgerechnet oder gelesen. „Wir schauen immer nach neuen Möglichkeiten, die Kinder zusammenzubringen, damit nicht jede und jeder nur einzeln vor ihrem oder seinem Gerät sitzt“, sagt Vedder.
Jan Vedder empfiehlt, sich Inspiration außerhalb der eigenen Schule zu holen, etwa durch Hospitationen bei Schulen wie der Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster oder der Alemannenschule Wutöschingen, die bereits neuartige Konzepte umgesetzt hat. „Es ist wichtig, eine kleine Keimzelle zu bilden. Eine Art Aufbruchsgruppe von Menschen, die Lust haben, etwas zu verändern“, sagt er. Und dann gilt es, zunächst die wichtigsten Fragen zu klären: Wie soll die Schule in fünf oder zehn Jahren aufgestellt sein? Was sind die Rahmenbedingungen? Und mit welchem kleineren Pilotprojekt könnte man starten, um den Ball ins Rollen zu bringen? Vedder sagt: „Ich bin überzeugt: Wenn man einmal anfängt, kann jede Schule sich wandeln.“
Foto: © Jan Vedder

Jan Vedder, Lehrer an der Oberschule Berenbostel, ist auch Schulentwickler und Referent. Seine Themen sind Schule im Wandel und Lernen mit Zukunft. Darüber berichtet er auf seiner Seite vedducation.de .

Weitere Informationen zu der Umfrage und den Empfehlungen finden Sie hier:

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