Berufseinstieg

„Ich sehe, wie groß die Ungleichheit beim Zugang zu Musik ist“

Jasmin Freerksema will als Grundschul­lehrerin Bildung gerechter machen. Im Interview erzählt sie, wie das Lehramts­stipendium Ruhr ihr dabei hilft.

Frau Freerksema, Sie sind eine von aktuell rund 260.000 Lehramts­studierenden. Was reizt Sie an dem Berufsbild?

Jasmin Freerksema: Ich arbeite sehr gerne mit Kindern. Schon vor dem Studium habe ich mich ehrenamtlich engagiert, etwa in der Ferienbetreuung oder im Kinder­gottes­dienst. Nach meiner Aus­bildung zur Kauf­frau für Büromanagement habe ich bis zuletzt in der freien Wirt­schaft gearbeitet, aber ich habe gemerkt: Mich erfüllt die Arbeit mit jungen Menschen viel mehr.

Sie haben sich mit dem Studium für einen Neu­anfang entschieden. Wie war die Umstellung vom Büro zum Hörsaal?

Freerksema: Das war ja eine bewusste und gut überlegte Entscheidung, des­halb war es vor allem aufregend – aber na­türlich auch eine große Umstellung. Vorher hatte ich einen geregelten Alltag, ein sicheres Gehalt. Und dann bin ich auf einmal Mini-Jobberin und Studentin ohne Bafög. Dafür muss man sicher sein, dass man es wirklich will.
Vor allem in Grundschulen lernen Kinder mit verschiedenen Hintergründen zusammen. „Das wollte ich besser verstehen“, so Jasmin Freerksema über ihre Motivation, am Lehramts­stipendium Ruhr teilzunehmen. © Wübben Stiftung Bildung/Isabela Pacini

Ein Lehramtsstudium bedeutet erstmal sehr viel Theorie. Wie viel Praxis­erfahrung sammeln Sie schon während des Studiums?

Freerksema: Ich arbeite seit dem ersten Semester im offenen Ganztag an einer inklusiven Grundschule in privater Träger­schaft in Bochum. Parallel bin ich als Lernhelferin an einer Schule in herausfordernder Lage in der Dort­munder Nordstadt im Einsatz – von beiden Schulen lerne ich viel und kann gleichzeitig sehen, wie facettenreich die Arbeit sein kann. An der Grund­schule gefällt mir besonders, dass man die Kinder den ganzen Tag begleitet, Beziehungen aufbauen und sie dadurch prägen kann. Außerdem habe ich das fünfwöchige Orientierungspraktikum nach dem zweiten Semester absolviert. Insgesamt gibt es aber zu wenig Praxis­phasen im Studium. Ohne eigene Initiative sammelt man kaum prak­tische Erfahrung – und merkt manch­mal erst spät, ob man sich in der Schule wohlfühlt.
Musik verbindet und bildet, jedoch hat nicht jedes Kind die Chance, ein Musik­instru­ment zu er­lernen. Das empfin­det die Lehr­amts­studentin als große Unge­rechtig­keit, der sie ent­gegentritt. © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
„Jedes Kind hat nicht nur das gleiche Recht auf Bildung, sondern auch auf engagierte und moti­vierte Lehrkräfte – unabhängig vom Standort, vom Image oder vom Sozialindex einer Schule“, findet die angeh­ende Grundschul­lehrerin. © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Ihr Schwerpunkt im Lehramts­studium ist Musik. Welche Rolle spielt Musik für Sie – und im Schulalltag?

Freerksema: Musik in jeglicher Form begleitet mich schon immer. Ich hatte auch das Privileg, früh ein Instrument lernen zu dürfen. Mittlerweile spiele ich fünf und bin in verschiedenen Bands und Ensembles aktiv. Diese Leiden­schaft möchte ich weitergeben. Gleichzeitig sehe ich, wie groß die Ungleichheit beim Zugang zu Musik ist – Instrumente und Unterricht sind teuer, und viele Familien können sich das nicht leisten. Dabei können vor allem Kinder mit Sprachbarrieren über gemein­sames Singen, Tanzen oder Musizieren ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. In meinen Schulen fragen die Kinder ständig, ob wir ihre aktuellen Lieblingslieder hören können, und dann tanzt und singt plötzlich die ganze Klasse mit. Ich fände es auch toll, Musik aus den Herkunftskulturen der Kinder in den Unterricht einzu­binden. So können sie ihre Identität einbringen, und gleichzeitig lernen alle mehr Toleranz und Offenheit.

„Jedes Kind hat nicht nur das gleiche Recht auf Bildung, sondern auch auf engagierte und motivierte Lehrkräfte – unabhängig vom Standort, vom Image oder vom Sozialindex einer Schule.“

Bildungsgerechtigkeit ist Ihnen ein Anliegen.

Freerksema: Ich bin eher behütet auf­ge­wachsen in einer ländlichen Gegend. In meiner Biografie war Bildungs­gerechtig­keit also nicht so prägend. Das hat sich aber mit dem Umzug ins Ruhrgebiet und später mit der Ent­scheidung für das Studium geändert. Ich möchte nicht einfach arbeiten gehen und Geld verdien­en, sondern später als Grundschul­lehrerin einen Unterschied in unserer Gesellschaft machen – weil ich weiß, dass das Bildungssystem eben ungerecht sein kann. Aus diesem Grund habe ich mich für das Lehramtsstipendium Ruhr beworben, weil ich mich neben dem Studium noch intensiver mit dem Thema Bildungs­gerechtigkeit ausein­ander­setzen wollte.
Das Bildungssystem kann ungerecht sein, weiß die angehende Lehrerin. Sie möchte später in unserer Gesellschaft „einen Unterschied machen“. © Wübben Stiftung Bildung/Katharina Werle

Wie sind Sie auf das Lehramts­stipendium Ruhr aufmerksam geworden?

Freerksema: Von dem Stipendium habe ich über eine Mail in unserem Uni-Verteiler erfahren. Das Thema Bil­dungs­gerechtigkeit hat mich sofort ange­sprochen. Gerade in Grundschulen ist die Heterogenität der Klassen groß: Kinder aus sehr unterschiedlichen Hintergründen lernen zusammen. Das wollte ich besser verstehen. Ich kann es auch jeder und jedem empfehlen – gerade Grundschul­lehramts­studierenden. Wir sind oft die ersten, die mit Bildungsgerechtigkeit kon­frontiert werden, weil in der Grund­schule alle Kinder zusammen­kommen. Das Stipendium hilft, eigene Vorurteile zu reflektieren, das Thema tiefer zu verstehen und schon früh Praxis­erfahrung zu sammeln.

Welche Unterstützung bietet Ihnen das Stipendienprogramm konkret?

Freerksema: Es ist eine Mischung aus praktischer Erfahrung, Workshops, Vor­trägen und Austausch mit anderen Stipendiatinnen und Stipendiaten aus ver­schiedenen Schulformen, sowie mit erfahrenen Lehr­kräften und weiteren Experten aus dem Bildungssektor. Durch die Tätigkeit als Lernhelferin an einer Schule in herausfordernder Lage kann ich direkt im Unterricht mit­arbeiten, aber ohne Druck. Besonders hilfreich fand ich auch eine Übung bei einem Workshop: Wir sollten einen Schritt nach vorne machen, wenn bestimmte Aussagen auf uns zutrafen, etwa „Ich hatte ein eigenes Zimmer“. Schon in dieser relativ homo­genen Gruppe aus Stipendiatinnen und Stipendiaten waren die Unter­schiede groß. Das hat mir die Augen geöffnet für Privilegien, die man selbst gar nicht bemerkt.

Was nehmen Sie aus dem Aus­tausch mit anderen Stipendiat­innen und Stipendiaten mit?

Freerksema: Vor allem, dass man mit Problemen nicht allein ist. Eine Kommi­li­tonin berichtete zum Beispiel, dass in einem Fall an ihrer Schule das Jugend­amt eingeschaltet werden musste. Das ist natürlich eine negative Extrem­situation, aber solche Einblicke helfen, vorbereitet zu sein. Auf der anderen Seite sind die posi­tiven Berichte sehr ermutigend und helfen, motiviert zu bleiben.
Vor allem Grundschullehramtsstudierenden empfiehlt Jasmin Freerksema das Lehramts­stipendium Ruhr. Dort lerne man viel über Bildungsgerechtigkeit. © Wübben Stiftung Bildung/Fabio Deinert

Extremsituationen wie diese kann es an Schulen im Brennpunkt eher mal geben als anderwo. Was treibt Sie an, trotzdem genau dort unterrichten zu wollen?

Freerksema: Jedes Kind hat nicht nur das gleiche Recht auf Bildung, sondern auch auf engagierte und motivierte Lehrkräfte – unabhängig vom Standort, vom Image oder vom Sozialindex einer Schule. Für mich bedeutet ‚heraus­fordernde Lage‘ nicht Hoffnungs­losigkeit, sondern vielmehr die Chance, gemeinsam etwas zu verändern und gleichzeitig auch persönlich an dieser Aufgabe zu wachsen. Ganz nach dem Motto ‚If you want change, be the change‘.

Klangschale als Teil des Musikunterrichts: Gern möchte Jasmin Freerksema aber auch Musik aus den Herkunftsländern der Schülerinnen und Schüler in den Unterricht integrieren. © Wübben Stiftung Bildung/Stefanie Loos

Was müsste sich Ihrer Meinung nach im deutschen Bildungs­system ändern, damit es gerech­ter wird?

Freerksema: Aus meiner bisherigen Er­fahrung würde ich sagen, wir sollten ganz radikal Hausaufgaben abschaffen oder zumindest eine verpflichtende Haus­aufgaben­­betreuung an Schulen einführen. Viele Kinder haben zu Hause keine Unter­stützung durch ihre Eltern oder keinen ruhigen Lernort. Trotzdem wird erwartet, dass sie dort nach­arbeiten – das benach­teiligt sie stark. Ich wünsche mir, dass wir Lehrkräfte mehr darauf achten, wie sehr die Leistung in der Schule vom Umfeld, in dem die Kinder aufwachsen, abhängen kann. Wenn wir Schule gerechter machen wollen, dürfen wir das nicht ignorieren.
Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
Weil sie einen Unterschied machen möchte, gab Jasmin Freerksema (28) aus Bochum ihren sicheren Job auf, um Grundschul­lehramt zu studieren. Mittlerweile ist die Stipendiatin im Lehramts­stipendium Ruhr im fünften Bachelor-Semester an der TU Dortmund und voll von ihrer Studienwahl überzeugt.

Über das Lehramtsstipendium Ruhr

Das Lehramtsstipendium Ruhr wurde 2023 als gemeinsame Initiative der RAG-Stiftung, der Wübben Stiftung Bildung, des Schulministeriums sowie der drei Universitäten der Universitäts­allianz Ruhr – Universität Duis­burg-Essen, Ruhr-Universität Bochum, Technische Universität Dortmund – ins Leben gerufen. Mit dem Programm werden angehende Lehrkräfte während des Bachelor-Studiums an den Universitäten Dortmund, Duis­burg-Essen und Bochum unter­stützt. Neben einer finanziellen Förderung erhalten die Stipen­diatinnen und Stipendiaten für bis zu 36 Monate praxisnahe Ein­blicke an Schulen in heraus­fordernder Lage im Ruhrgebiet, besuchen das eigens entwickelte Studienprofil „Bildungs­gerechtig­keit“ sowie ein bedarfs­orien­tiertes Begleitprogramm. Ziel ist es, mehr Lehrkräfte für die Schulen in heraus­fordernder Lage zu gewinnen und sie systema­tisch für diese Arbeit zu profess­ional­isieren.

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