„Welche Unterstützung uns nun mit dem Index 9 zusteht, darüber haben wir keine Kenntnis“
Ich bin froh über die Neuberechnung des Schulsozialindexes, weil wir 2020 falsch eingruppiert wurden. Wir hatten die Indexstufe 7, jetzt sind wir zum Schuljahr 2024/2025 eine 9. Dabei hatten wir die Kriterien für diese Stufe 9 schon vorher erfüllt. Hier im Stadtteil haben wir drei Grundschulen mit beinahe identischen Rahmenbedingungen: Nahezu alle Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund, an allen drei Schulen wird inklusiv gelernt. Wir haben das wiederholt der Schulaufsicht gemeldet, aber ob das je an die richtige Stelle weitergetragen wurde, weiß ich nicht.
„Wir Schulleitungen sind sowieso immer das letzte Glied in der Kommunikationskette“
Wenn wir nun aufgrund der neuen Einsortierung mehr finanzielle Mittel und mehr Personal bekommen, kann uns das nur recht sein. Ich bin aber skeptisch und harre der Dinge, die da kommen. Denn welche Unterstützung Schulen mit dem Index 9 zusteht, darüber haben wir keine Kenntnis.
Jede Schule ist anders. Nur wer wirklich einmal vor Ort war, kann sich ein Urteil erlauben. Ich wünschte mir, dass eine Abgeordnetendelegation mit einem detaillierten Fragebogen in jede einzelne Schule geht und sich ein Bild macht. Und daraufhin ein individuelles Hilfsprogramm startet, statt mit der Gießkanne Mittel zu verteilen.
„Wir brauchen eine Ungleichbehandlung“
Wir brauchen Sonderpädagoginnen, Erzieher und Therapeutinnen, Psychologen und Sozialpädagoginnen. Wir brauchen mehr finanzielle Mittel, etwa für Kopierer und Papier. Und Lernmaterialien, die es uns erlauben, besser auf die Lebenswelten der Kinder einzugehen. Und wir brauchen eine Ungleichbehandlung! Trotz aller Herausforderungen leisten wir hervorragende Arbeit an unserer Schule. Kämen die Verantwortlichen aus den Ministerien tatsächlich einmal zu Besuch, sähen sie auch diese positive Seite von Schulen im Brennpunkt.
Jennifer Poschen leitet die Gemeinschaftsgrundschule Hochfelder Markt in Duisburg. In der Grundschule werden mehr als 470 Kinder in 19 Klassen unterrichtet.
„Für meine Schule ist es fatal, dass wir jetzt eine unter vielen sind“
Klaus Hagge ist Leiter der Gemeinschaftsgrundschule Sandstraße in Duisburg mit 378 Schülerinnen und Schülern. Die Schule ist seit Februar 2021 auch Familiengrundschulzentrum.
„Es scheint so, als sei irgendetwas bei der Berechnung grundlegend verändert worden.“
Nach den Kriterien aus dem Jahr 2020 haben wir den Index 9. Aktuell sind wir eine von vier Schulen in Nordrhein-Westfalen – ausschließlich Grundschulen übrigens –, die als besonders förderungsbedürftig identifiziert wurden. Noch, denn laut der neuen Berechnung, die ab dem kommenden Schuljahr greift, sind es nicht mehr nur vier Grundschulen mit der kritischsten Ziffer, sondern gleich 136. Da sind jetzt auch weiterführende Schulen dabei. Es scheint so, als sei irgendetwas bei der Berechnung grundlegend verändert worden.
Ich hatte erwartet, dass eine 9 dazu führt, dass der Fokus auf uns gerichtet wird. Man hat uns damals zwar in den Blick genommen, aber nicht in der Form, wie man es meiner Meinung nach aufgrund der Krisenhaftigkeit, die diese Ziffer signalisiert, hätte tun müssen. Uns fehlten seinerzeit schon fünf Fachkräfte – heute sind es acht Stellen! Wir haben seit einem Jahr keine Schulsozialarbeiterin. Wir hangeln uns also durch mit Studierenden, vier Alltagshelferinnen und einer Fachkraft für die Frühförderung. Dabei bräuchten wir so viele Menschen mehr!
„Die Aufmerksamkeit für unsere Bedürfnisse wird sinken.“
„Der Sozialindex kann ein wertvolles Werkzeug sein, wenn er korrekt eingesetzt wird“
„Ein hoher Sozialindex muss nicht zwangsläufig mit niedrigen akademischen Leistungen einhergehen.“
Trotz unseres hohen Sozialindexes können wir an unserer Schule eine hohe Leistungsheterogenität aufrechterhalten. Dies zeigt, dass ein hoher Sozialindex nicht zwangsläufig mit niedrigen akademischen Leistungen einhergehen muss. Vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass bei adäquater Förderung und Ressourcenzuweisung alle Schülerinnen und Schüler ihr volles Potenzial entfalten können. Dass bereits die unterschiedlichen Grundschulen in unserem Stadtteil trotz räumlicher Nähe große Differenzen im Sozialindex aufweisen, verdeutlicht den akuten Handlungsbedarf. Es ist unerlässlich, dass wir als Gesellschaft dieser vermeintlichen Spaltung entgegentreten, indem wir allen Schulen die Unterstützung zukommen lassen, die sie benötigen, um eine inklusive und fördernde Lernumgebung zu schaffen. Dies ist entscheidend, um nicht nur Bildungsungleichheiten zu mindern, sondern auch um eine Basis für eine demokratische und gerechte Gesellschaft zu legen.
Für die Weiterentwicklung des Bildungssystems ist es entscheidend, dass der Fokus auf Schulen mit hohem Sozialindex nicht dazu führt, dass die Bedürfnisse anderer Schulen übersehen werden. Jede Bildungseinrichtung, unabhängig von ihrem Sozialindex, steht vor eigenen Herausforderungen, besonders in diesen schwierigen Zeiten. Die Unterstützungsmaßnahmen, die für das Schuljahr 2024/2025 geplant sind, sind ein Schritt in die richtige Richtung, müssen aber auch Schulen mit einem kleineren Sozialindex als 7 einbeziehen, um eine Verbesserung des Bildungssystems zu gewährleisten. Der Sozialindex kann ein wertvolles Werkzeug sein, wenn er korrekt eingesetzt wird. Er sollte als Chance gesehen werden, um Ressourcen gezielt dort einzusetzen, wo sie am meisten benötigt werden.
Silke Richter leitet die Erich Kästner Gesamtschule Duisburg-Homberg, an der 1.059 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden.
Was ist der Schulsozialindex?
Der Schulsozialindex wurde im Jahr 2020 im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen von der Ruhr-Universität Bochum entwickelt und nun für das Schuljahr 2024/2025 aktualisiert. Das Instrument ermöglicht, die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft einer einzelnen Schule mit einem Wert abzubilden sowie entsprechende soziale Herausforderungen zu identifizieren. So sollen bestimmte Ressourcen zielgenauer auf die Schulen (alle allgemeinbildenden Schulformen) verteilt werden. Die Sozialindexstufe 1 bedeutet die niedrigste Belastung für eine Schule, 9 kennzeichnet Schulen mit der höchsten Belastung. Der Index wird anhand von vier Indikatoren berechnet:
- Kinder- und Jugendarmut
- Anteil der Schülerinnen und Schüler mit vorwiegend nicht deutscher Familiensprache
- Anteil der Schülerinnen und Schüler mit eigenem Zuzug aus dem Ausland
- Anteil der Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache
Während bei der ersten Berechnung im Jahr 2020 insgesamt 639 Grundschulen die Sozialindexstufe 1 hatten und nur vier Schulen den Index 9, hat sich bei der neueren Berechnung viel verändert: Im Schuljahr 2024/2025 haben 270 Grundschulen die Indexstufe 1 und 136 die Stufe 9.
Neben einer Aktualisierung der Indikatoren liegen diesen Veränderungen auch neue Mechanismen in der Zuteilung der Schulen zu den Sozialindexstufen zugrunde. So werden in der neuen Berechnung beispielsweise per definitionem die – nach den Belastungsindikatoren – obersten 5 Prozent aller Schulen der Stufe 9 zugeordnet. Zuvor waren lediglich inhaltliche Abstände in den Indikatoren entscheidend und es gab keine Vorgabe, wie viele Schulen der Stufe 9 zugeordnet sind.
3 Antworten
Neuer Schulsozialindex in NRW: Welche Hoffnungen macht Ihr Euch und welche Herausforderungen seht Ihr?
Großartig, dass ihr das Erleben der Schulleitungen selbst hier zu Wort kommen lasst.
Die Aussagen von Frau Richter finde ich absolut nachvollziehbar und differenziert. Sie trifft es auf den Punkt. Jetzt müssen nur noch die Mittel, die mit der neuen Einstufung auch einhergehen, konstruktiv, lösungsorientiert und flexibel in den einzelnen Schulen eingesetzt werden.