Schulsozialindex in NRW

„Nur wer hier wirklich einmal vor Ort war, kann sich ein Urteil erlauben“

Der Schulsozialindex in Nordrhein-Westfalen wurde neu berechnet. Darüber wird kontrovers diskutiert. Drei Schulleitungen erzählen.

Jennifer Poschen

„Welche Unterstützung uns nun mit dem Index 9 zusteht, darüber haben wir keine Kenntnis“

Ich bin froh über die Neuberechnung des Schulsozialindexes, weil wir 2020 falsch eingruppiert wurden. Wir hatten die Indexstufe 7, jetzt sind wir zum Schuljahr 2024/2025 eine 9. Dabei hatten wir die Kriterien für diese Stufe 9 schon vorher erfüllt. Hier im Stadtteil haben wir drei Grundschulen mit beinahe identischen Rahmenbedingungen: Nahezu alle Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund, an allen drei Schulen wird inklusiv gelernt. Wir haben das wiederholt der Schulaufsicht gemeldet, aber ob das je an die richtige Stelle weitergetragen wurde, weiß ich nicht.

„Wir Schulleitungen sind sowieso immer das letzte Glied in der Kommuni­kations­kette“

Wenn wir nun aufgrund der neuen Einsortierung mehr finanzielle Mittel und mehr Personal bekommen, kann uns das nur recht sein. Ich bin aber skeptisch und harre der Dinge, die da kommen. Denn welche Unterstützung Schulen mit dem Index 9 zusteht, darüber haben wir keine Kenntnis.

Jede Schule ist anders. Nur wer wirklich einmal vor Ort war, kann sich ein Urteil erlauben. Ich wünschte mir, dass eine Abgeordnetendelegation mit einem detaillierten Fragebogen in jede einzelne Schule geht und sich ein Bild macht. Und daraufhin ein individuelles Hilfsprogramm startet, statt mit der Gießkanne Mittel zu verteilen.

„Wir brauchen eine Ungleichbehandlung“

Wir brauchen Sonderpädagoginnen, Erzieher und Therapeutinnen, Psychologen und Sozialpädagoginnen. Wir brauchen mehr finanzielle Mittel, etwa für Kopierer und Papier. Und Lernmaterialien, die es uns erlauben, besser auf die Lebenswelten der Kinder einzugehen. Und wir brauchen eine Ungleichbehandlung! Trotz aller Herausforderungen leisten wir hervorragende Arbeit an unserer Schule. Kämen die Verantwortlichen aus den Ministerien tatsächlich einmal zu Besuch, sähen sie auch diese positive Seite von Schulen im Brennpunkt.

Foto: © Peter Gwiazda

Jennifer Poschen leitet die Gemeinschafts­grundschule Hochfelder Markt in Duisburg. In der Grundschule werden mehr als 470 Kinder in 19 Klassen unterrichtet.

Klaus Hagge

„Für meine Schule ist es fatal, dass wir jetzt eine unter vielen sind“

Foto: © Martin Magunia

Klaus Hagge ist Leiter der Gemeinschafts­grundschule Sandstraße in Duisburg mit 378 Schülerinnen und Schülern. Die Schule ist seit Februar 2021 auch Familien­grund­schul­zentrum.

Ich finde den Sozialindex sehr sinnvoll. Damit haben alle Entscheiderinnen und Entscheider in der Politik und im Schulsystem ein Werkzeug an der Hand, das bei der Vergabe von Ressourcen, sei es materieller oder personeller Art, helfen kann. Und es ist sicherlich richtig, alle drei Jahre den Index erneut zu überprüfen, denn wie sich an der Flüchtlingswelle aus der Ukraine zeigt, können kurzfristige Ereignisse die Situation an den Schulen rasch verändern.

„Es scheint so, als sei irgendetwas bei der Berechnung grundlegend verändert worden.“

Nach den Kriterien aus dem Jahr 2020 haben wir den Index 9. Aktuell sind wir eine von vier Schulen in Nordrhein-Westfalen – ausschließlich Grundschulen übrigens –, die als besonders förderungsbedürftig identifiziert wurden. Noch, denn laut der neuen Berechnung, die ab dem kommenden Schuljahr greift, sind es nicht mehr nur vier Schulen mit der kritischsten Ziffer, sondern gleich 136. Da sind jetzt auch weiterführende Schulen dabei. Es scheint so, als sei irgendetwas bei der Berechnung grundlegend verändert worden.

Ich hatte erwartet, dass eine 9 dazu führt, dass der Fokus auf uns gerichtet wird. Man hat uns damals zwar in den Blick genommen, aber nicht in der Form, wie man es meiner Meinung nach aufgrund der Krisenhaftigkeit, die diese Ziffer signalisiert, hätte tun müssen. Uns fehlten seinerzeit schon fünf Fachkräfte – heute sind es acht Stellen! Wir haben seit einem Jahr keine Schulsozialarbeiterin. Wir hangeln uns also durch mit Studierenden, vier Alltagshelferinnen und einer Fachkraft für die Frühförderung. Dabei bräuchten wir so viele Menschen mehr!

„Die Aufmerksamkeit für unsere Bedürfnisse wird sinken.“

Ich verstehe, dass es nach den neuen Kriterien viele weitere Schulen gibt, die noch besser unterstützt werden müssen. Für meine Schule ist es aber fatal, dass wir jetzt eine unter vielen sind. Die Aufmerksamkeit für unsere Bedürfnisse wird sinken, und das ist sehr bedauerlich, da wir schon vor vier Jahren weitaus mehr Hilfe verdient hätten. Die Kinder und Jugendlichen an Schulen wie unserer sind Menschen, die wir in unserer Gesellschaft brauchen. Diese Kinder haben ein Anrecht auf gute Bildung. Aber der Verteilungskampf unter den Schulen geht jetzt erst richtig los.
Silke Richter

„Der Sozialindex kann ein wertvolles Werkzeug sein, wenn er korrekt eingesetzt wird“

Als Leiterin einer Schule im Brennpunkt mit einem Sozialindex von 8 bin ich täglich Zeugin der unterschiedlichen Bildungswege und Potenziale unserer Schülerinnen und Schüler. Den Sozialindex verstehe ich als ein Instrument zur Förderung – mediale Kritik auf Basis einer hierbei angeblich stattfindenden Stigmatisierung kann ich nicht nachvollziehen. Wir haben an unserer Schule beobachtet, dass Schülerinnen und Schüler mit Inklusions- und Integrationsbedarf sowie aus sozial schwächeren Familien erstaunliche Fortschritte machen können, wenn sie die richtige Unterstützung und Begleitung erhalten. Ihre Erfolgsgeschichten sind ein Beweis dafür, dass bei entsprechender Förderung und Anerkennung ihrer individuellen Bedürfnisse alle Kinder unabhängig von ihrem Hintergrund erfolgreich sein können. Diese positiven Entwicklungen stehen im direkten Widerspruch zu dem vermeintlichen Stigma, das oft mit einem hohen Sozialindex verbunden wird.

„Ein hoher Sozialindex muss nicht zwangsläufig mit niedrigen akademischen Leistungen einhergehen.“

Trotz unseres hohen Sozialindexes können wir an unserer Schule eine hohe Leistungsheterogenität aufrechterhalten. Dies zeigt, dass ein hoher Sozialindex nicht zwangsläufig mit niedrigen akademischen Leistungen einhergehen muss. Vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass bei adäquater Förderung und Ressourcenzuweisung alle Schülerinnen und Schüler ihr volles Potenzial entfalten können. Dass bereits die unterschiedlichen Grundschulen in unserem Stadtteil trotz räumlicher Nähe große Differenzen im Sozialindex aufweisen, verdeutlicht den akuten Handlungsbedarf. Es ist unerlässlich, dass wir als Gesellschaft dieser vermeintlichen Spaltung entgegentreten, indem wir allen Schulen die Unterstützung zukommen lassen, die sie benötigen, um eine inklusive und fördernde Lernumgebung zu schaffen. Dies ist entscheidend, um nicht nur Bildungsungleichheiten zu mindern, sondern auch um eine Basis für eine demokratische und gerechte Gesellschaft zu legen.

Für die Weiterentwicklung des Bildungssystems ist es entscheidend, dass der Fokus auf Schulen mit hohem Sozialindex nicht dazu führt, dass die Bedürfnisse anderer Schulen übersehen werden. Jede Bildungseinrichtung, unabhängig von ihrem Sozialindex, steht vor eigenen Herausforderungen, besonders in diesen schwierigen Zeiten. Die Unterstützungsmaßnahmen, die für das Schuljahr 2024/2025 geplant sind, sind ein Schritt in die richtige Richtung, müssen aber auch Schulen mit einem kleineren Sozialindex als 7 einbeziehen, um eine Verbesserung des Bildungssystems zu gewährleisten. Der Sozialindex kann ein wertvolles Werkzeug sein, wenn er korrekt eingesetzt wird. Er sollte als Chance gesehen werden, um Ressourcen gezielt dort einzusetzen, wo sie am meisten benötigt werden.

Foto: © Peter Gwiazda

Silke Richter leitet die Erich Kästner Gesamtschule Duisburg-Homberg, an der 1.059 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden.

Was ist der Schulsozialindex?

Der Schulsozialindex wurde im Jahr 2020 im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen von der Ruhr-Universität Bochum entwickelt und nun für das Schuljahr 2024/2025 aktualisiert. Das Instrument ermöglicht, die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft einer einzelnen Schule mit einem Wert abzubilden sowie entsprechende soziale Herausforderungen zu identifizieren. So sollen bestimmte Ressourcen zielgenauer auf die Schulen (alle allgemeinbildenden Schulformen) verteilt werden. Die Sozialindexstufe 1 bedeutet die niedrigste Belastung für eine Schule, 9 kennzeichnet Schulen mit der höchsten Belastung. Der Index wird anhand von vier Indikatoren berechnet:

Während bei der ersten Berechnung im Jahr 2020 insgesamt 639 Grundschulen die Sozialindexstufe 1 hatten und nur vier Schulen den Index 9, hat sich bei der neueren Berechnung viel verändert: Im Schuljahr 2024/2025 haben 270 Grundschulen die Indexstufe 1 und 136 die Stufe 9.

Neben einer Aktualisierung der Indikatoren liegen diesen Veränderungen auch neue Mechanismen in der Zuteilung der Schulen zu den Sozialindexstufen zugrunde. So werden in der neuen Berechnung beispielsweise per definitionem die nach den Belastungsindikatoren obersten 5 Prozent aller Schulen der Stufe 9 zugeordnet. Zuvor waren lediglich inhaltliche Abstände in den Indikatoren entscheidend und es gab keine Vorgabe, wie viele Schulen der Stufe 9 zugeordnet sind.

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3 Antworten

  1. Die Aussagen von Frau Richter finde ich absolut nachvollziehbar und differenziert. Sie trifft es auf den Punkt. Jetzt müssen nur noch die Mittel, die mit der neuen Einstufung auch einhergehen, konstruktiv, lösungsorientiert und flexibel in den einzelnen Schulen eingesetzt werden.

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