Beziehungskultur im Schulalltag

„Seit ich schreibe, fühle ich mich freier“

Das Tagebuchschreiben im Unterricht öffnete Odin Wörmann Türen zu sich selbst. Was sich durch das ChangeWriters-Projekt im Leben des 19-Jährigen verändert hat.

Im Dezember 2024 wird das Gedicht „Der Verrat“ von Odin Wörmann veröffentlicht. Er reichte es zuvor beim Gedichtwettbewerb der Frankfurter Bibliothek ein.

Odin, du hast bis vor Kurzem als Schüler des Elisabeth-Lüders-Berufskollegs in Hamm im Rahmen des ChangeWriters-Projekts Tagebuch geschrieben und, davon inspiriert, auch eigene Gedichte. Im Dezember wird dein Gedicht „Der Verrat“ ver­öffentlicht, das du beim diesjährigen Gedichtwettbewerb der Frankfurter Bibliothek eingereicht hast. Wie war es, als du davon erfahren hast?

Odin Wörmann: Als ich die E-Mail mit der Zusage bekam, war ich überglücklich. Das war ein unbeschreibliches Gefühl, denn ich hätte nie damit gerechnet, dass jemand mein Gedicht veröffent­lichen würde. Es ist das erste, das ich je geschrieben habe und in dem die meisten Emotionen von mir stecken. Das macht mich sehr stolz. 

Worum geht es darin?

Wörmann: Meine damalige Freundin hatte mich nach zwei Jahren Beziehung verlassen für mich brach eine Welt zusammen. In diesem Gedicht drücke ich meine gesamte Verzweiflung aus. Ich erinnere mich, wie ich weinend am Schreibtisch saß und die Wörter aus meinem Kopf zu Papier brachte. Meine Enttäuschung und Ver­letztheit aufzuschreiben, statt sie für mich zu behalten, hat mir sehr geholfen. Dass ich Gefühle durch Schreiben gut verarbeiten kann, hatte ich zuvor schon im Religionsunterricht erlebt.

Deine Religionslehrerin Miriam Wacker führte nach einer Fort­bildung bei den ChangeWriters das Tagebuchschreiben in eurer Ausbildungsvorbereitungsklasse ein. Was hat das verändert?

Wörmann: Anfangs hatte ich keinen guten Draht zu meinen Mit­schülerinnen und Mitschülern. Das gemeinsame Schreiben hat den Zusammenhalt in unserer Klasse komplett verändert. Wir kamen miteinander ins Gespräch und unterstützten uns gegenseitig. Vor jeder Schreibeinheit gab uns Frau Wacker Schreibimpulse, über die wir sprachen. Manchmal ging es auch um ernstere Themen wie den Tod. Normalerweise war es bei uns nie ganz still. Doch wenn wir Tagebuch schrieben, waren wirklich alle ruhig und schrieben auf, was sie auf dem Herzen hatten. Die meisten erlaubten Frau Wacker auch, ihre Tagebücher zu lesen und zu kommentieren. Sie wurde so zu einer richtigen Bezugsperson für uns.

Woran lag das?

Wörmann: Sie hatte eine sehr positive Ausstrahlung und gab uns von Anfang an das Gefühl, dass sie wirklich für uns da ist und uns nicht nur irgendwie durch die Schulzeit bringen will. Sie war schon die vierte Religionslehrerin im Laufe eines Schuljahres. Doch bei ihr wusste ich schnell, dass ich sie jederzeit ansprechen kann, sollte ich mal Hilfe brauchen. Sie war es auch, die mich ermutigte, mein Gedicht einzureichen.

Was hat dir ihre Unterstützung bedeutet?

Wörmann: Die war mir sehr wichtig. Das Tagebuchschreiben inspirierte mich, auch außerhalb der Schule zu schreiben. Irgendwann fing ich an, ihr meine Gedichte zu zeigen. Sie fand sie richtig gut und meinte, dass man bei einigen denken könnte, sie wären bereits veröffent­licht worden. Dann dachte ich mir, warum versuche ich es nicht einfach? Also habe ich einen Wettbewerb gesucht und mich beworben. 

Was hat sich in deinem Leben verändert, seit du autobiografisch schreibst und Gedichte verfasst?

Wörmann: Seit ich schreibe, geht es mir psychisch besser. Ich fühle mich freier und kann anderen mehr vertrauen. Gefühle, über die ich normalerweise niemals ein Wort verloren hätte, konnte ich beim Tagebuchschreiben und später in meinen Gedichten rauslassen. Durch all das habe ich mich selbst besser kennengelernt. 

Ort der Inspiration: Der junge Autor im kultur­historischen Gustav-Lübcke-Museum in Hamm.
Das erste Gedicht, das Odin Wörmann schrieb, handelte von seiner zerbrochenen Beziehung. Die Kette seiner damaligen Freundin trägt er immer noch.
Sein kleines Notizbuch hat der Auszubildende immer dabei. Hier notiert der künftige Erzieher seine Gedanken zu möglichen neuen Texten und Gedichten.

Welcher Impuls ist dir in besonderer Erinnerung geblieben?

Wörmann: In einer Schulstunde zeigte uns Frau Wacker ein Bild, auf dem verschiedene Personen zu sehen waren. Wir sollten uns mit einer von ihnen identifizieren und dann etwas dazu schreiben. Ich wählte eine Person, die jemandem hinterherlief. Ich hatte lange Zeit Probleme damit, Menschen gehen zu lassen, und bin ihnen aus Verlustangst hinterhergelaufen. Nachdem ich darüber in meinem Tagebuch schrieb, konnte ich viel besser verstehen, warum ich mich so fühlte. Mir ist es im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden, anderen zu zeigen, was Schreiben in einem selbst verändern kann. 

Auf welche Weise gibst du deine Erfahrungen weiter?

Wörmann: Durch die Unterstützung von Frau Wacker konnte ich neulich als Teamer am Sommercamp der ChangeWriters teilnehmen. Dort habe ich erzählt, was das Tage­buchschreiben mit mir gemacht hat, und habe versucht, es den Schülerinnen und Schülern näher­zubringen. Es war sehr berührend, ihre Geschichten zu hören und zu sehen, wie Schreiben verbindet und auf welche Weise es ermöglicht, das rauszulassen, worüber man sonst nicht sprechen kann. 

„Schreiben kann die Laune heben und die Persönlichkeit verändern“ – das hat Odin Wörmann selbst erleben dürfen.

Ende des Jahres wird nicht nur dein Gedicht im Jahrbuch der Brentano-Gesellschaft veröffentlicht, dir wurde auch ein einjähriges Fern­studium im „Literarischen Schreiben“ an der Cornelia-Goethe-Akademie angeboten. Wie sind deine Pläne?

Wörmann: Auch wenn ich wollte, dass mein Gedicht veröffentlicht wird, so soll das Schreiben eine Sache für mich bleiben. Das Studium an der Cornelia-Goethe-Akademie möchte ich nicht antreten, sondern lieber weiter in meiner Freizeit schreiben. Seit Kurzem mache ich eine praxis­integrierte Ausbildung zum Erzieher an meiner alten Schule. Ich wollte schon immer etwas Soziales machen, eine Arbeit, bei der ich Menschen helfen kann. Danach will ich entweder Sozialpädagogik oder soziale Arbeit studieren. Das Schreiben will ich bestenfalls in meinen Beruf einbinden. 

Welche Ideen hast du da?

Wörmann: Wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin, kann ich mir gut vorstellen, Kindern und Jugendlichen die ChangeWritersMethode näherzubringen. Ich würde gern weitergeben, welche Kraft das Schreiben haben kann und wie es mir geholfen hat.

Worin besteht diese Kraft?

Wörmann: Schreiben kann die Laune heben und die Persönlichkeit verändern. Früher fiel es mir schwer, mit neuen Leuten in Kontakt zu kommen. Inzwischen gehe ich auf andere zu, kann mich besser verständigen, und ich trage nicht mehr so viel Traurigkeit in mir. Das alles hat das Schreiben möglich gemacht.

Beim Spazierengehen kommt Odin Wörmann auf frische Gedanken, die er hin und wieder zu Papier bringt.

Über ChangeWriters e.V.

In Praxisseminaren vermittelt der Verein ChangeWriters e.V. Lehrkräften, wie sich das Tagebuchschreiben in den Unterricht integrieren lässt und welche weiteren Wege es für den gelingenden Beziehungsaufbau innerhalb des Klassenverbands gibt. Inspiriert vom Engagement der US-amerikanischen Lehrerin Erin Gruwell und den Freedom Writers, gründete Schulsozialarbeiter Jörg Knüfken 2014 den Verein in Deutschland. Inzwischen arbeiten bundesweit rund 110 Partnerschulen nach der ChangeWritersMethode. Der Verein wird unter anderem von Aqtivator, der Schöpflin Stiftung und derWübben Stiftung Bildunggefördert.

Eine Antwort

  1. Wer von Euch hat auch schon Erfahrungen mit dem Tagebuchschreiben im Unterricht gemacht? Teil Eure Erfahrungen gerne mit uns.

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