Schulabsentismus

Der Brückenbauer

An der Dortmunder Anne-Frank-Gesamtschule schafft ein Bildungsmediator Vertrauen zwischen Rom*nja-Familien und der Schule – und öffnet Türen in die jeweils andere Welt.

Der Morgen, an dem Schulleiter Bernd Bruns bestätigt sah, dass Staniša Duraković der richtige Mensch für seine Schule ist, begann mit einer Szene auf dem Lehrerparkplatz. „Ich sah eine Mutter und ihren Sohn, die hektisch und aufgeregt gestikulierten. Da stieg Duraković gut gelaunt aus seinem Auto, sprach den Schüler und seine Mutter freundlich an, redete mit ihnen, und auf einmal wurde die Situation ganz leicht.“ Bruns habe noch gefragt, ob er helfen könne, aber Duraković habe geantwortet: „Ich mache das, alles wird gut.“

Der Mann, der an der Anne-Frank-Gesamtschule in der Dortmunder Nordstadt dafür sorgt, dass sich vieles zum Guten fügt, hat eine unkonventionelle Berufsbezeichnung. Staniša Duraković ist als Rom*nja-Bildungsmediator bei der Maßnahme „Vast vasteste – Hand in Hand“ (siehe weitere Infos im Infokasten) im Einsatz. Seine Jobbeschreibung ist in keinem Katalog des öffentlichen Dienstes zu finden, er besitzt keinen formalen Schul- oder Studienabschluss, und doch leistet er an der Anne-Frank-Gesamtschule Hilfe von unschätzbarem Wert. „Herr Duraković ist eine nicht mehr wegzudenkende Kraft bei uns an der Schule“, betont Schulleiter Bruns.

Der Bildungsmediator bereitet den Förderunterricht vor, bei dem er mit kleinen Gruppen die deutsche Rechtschreibung übt.

Sprache als Verbindungsglied

Der Grund, warum ein Mann wie Duraković gebraucht wird: Viele der Rom*nja, die zwischen 2015 und 2018 in großer Zahl aus Südosteuropa in die Dortmunder Nordstadt zogen, leiden unter struktureller Benachteiligung und Diskriminierung. Das verhindert häufig, dass die Kinder und Jugendlichen aus dieser Community gut im Bildungssystem ankommen. Die Anne-Frank-Gesamtschule etwa stellte fest, dass viele Schülerinnen und Schüler nicht regelmäßig zum Unterricht erschienen. Gleichzeitig hegten die Familien aufgrund schlechter Erfahrungen mit Behörden in ihren Herkunftsländern und in Deutschland großes Misstrauen gegenüber der Schule.

Eine Reise nach Rumänien mit Vertreterinnen und Vertretern von Schulen und Ämtern öffnete Bruns den Blick für die Lebenswirklichkeit der Rom*nja -Familien, die oft von Armut und Ausgrenzung geprägt ist und in der formelle Bildung eine eher geringe Rolle spielt. Und schnell wurde klar: Eine Mediatorin oder ein Mediator musste her – eine Person, die die Sprachen der Menschen spricht und zwischen Schulen und Elternhaus vermitteln kann.

„Ich selbst hatte keine Unterstützung, da habe ich mich wiedergefunden. Ich hatte nie etwas mit Schule zu tun, jetzt bin ich in der Schule zu Hause.“

Im Jahr 2019 entwickelte die Stadt Dortmund gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen und der Freudenberg-Stiftung das Pilotprojekt „Vast vasteste – Hand in Hand“, um Rom*nja als Bildungsmediatorinnen und Bildungsmediatoren für neu zugewanderte und bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche aus Südosteuropa in Dortmund einzusetzen. Und diese Maßnahme erfüllt der serbische Rom Duraković an der Anne-Frank-Gesamtschule gemeinsam mit seiner schulischen Tandempartnerin, der Lehrerin Emel Engintepe, mit Leben. Sein Job ist es, Vertrauen zu schaffen. Das gelingt dem 30-jährigen Familienvater vor allem durch seine positive, aufgeschlossene Art.

Dabei hat Duraković, Cargohose, Sneaker, Ohrringe, selbst keine positive Schulerfahrung. Als Rom*nja-Kind wurde er in der deutschen Grundschule gemobbt, nach seiner Rückkehr nach Serbien durfte er gar nicht mehr in die Schule. Trotzdem hat ihn der Job angesprochen. „Ich selbst hatte keine Unterstützung, da habe ich mich wiedergefunden. Ich hatte nie etwas mit Schule zu tun, jetzt bin ich in der Schule zu Hause“, erklärt er.

Fast rund um die Uhr erreichbar: Das Smartphone ist Staniša Durakovićs ständiger Begleiter.

Mann für alles

An diesem Morgen in der Anne-Frank-Gesamtschule klingelt schon früh Durakovićs Handy. Eltern aus der Rom*nja-Community, die ihre Kinder krankmelden wollen, wählen am liebsten seine Nummer. Denn sie wissen, dass der Mann am anderen Ende der Leitung sie versteht. Nach dem Gong wird es ruhig, und Duraković hat etwas Zeit, um seinen Arbeitsalltag zu schildern. Mal begleitet er als Vermittler Elterngespräche, dann schlichtet er Streit auf dem Schulhof, und immer wieder rufen ihn Lehrkräfte bei Problemen ins Klassenzimmer. Er unterstützt einzelne Kinder während des Unterrichts und gibt Kleingruppen Nachhilfe zum deutschen Alphabet. Manchmal bitten Eltern ihn, einen Brief für sie zu übersetzen und zu erläutern oder bei Ämtern anzurufen. Vor allem aber kümmert er sich um „Schulabsentismus“ – das Fernbleiben der Kinder vom Unterricht. Und dazu besucht er die Eltern zu Hause.

Das Vertrauen der Eltern muss sich auch der Mediator erst erarbeiten. Beim ersten Hausbesuch sieht er oft nur ein Auge der Mutter durch den Türspalt blitzen. Nicht selten wird Duraković erst nach mehreren Anläufen hereingebeten. In vielen Familien gibt es Vorbehalte gegen ihn als Mann, andere misstrauen grundsätzlich jeder und jedem. Doch der gemeinsame kulturelle Hintergrund und das Verständnis der Sprache verbinden. Dann beginnt Duraković zu erklären, warum die Kinder zur Schule gehen müssen, auch die Mädchen. „Ich sage den Eltern: Sie sind nach Deutschland gekommen, um ein besseres Leben zu führen. Das funktioniert hier nicht ohne Schulabschluss.“

Bei seinen Hausbesuchen hört und sieht Duraković die Auswirkungen der Perspektivlosigkeit, die nur schwer zu verkraften sind. Er trifft verzweifelte Menschen, die sich aufgegeben haben. Ihr Konto ist gesperrt, sie können den Strom nicht bezahlen, das Wasser wurde abgestellt. In anderen Familien ist der Vater verschwunden, die Mutter heillos überfordert. „Es kommt öfter vor, dass ich vor einem großen Berg mit Problemen stehe“, berichtet Duraković. „Aber ich versuche grundsätzlich immer zu helfen, wo ich kann.“

„Ich sage den Eltern: Sie sind nach Deutschland gekommen, um ein besseres Leben zu führen. Das funktioniert hier nicht ohne Schulabschluss.“

Humor als Eisbrecher

An diesem Vormittag steht kein Hausbesuch an. Stattdessen begleitet Duraković eine 7. Klasse im Unterricht. Das Fach Technik steht auf dem Stundenplan, und die Schülerinnen und Schüler sind gerade dabei, aus Kupferdraht eine Blume zu löten. Der Bildungsmediator gesellt sich an einen Tisch, stellt sich vor und beginnt mit den Jugendlichen zu plaudern. „Machen Sie Kampfsport?“, fragt ihn dabei ein Junge. „Nein, ich bin nur ein bisschen pummelig“, antwortet Duraković. Alle lachen, und das Eis ist gebrochen. So läuft es meistens, wenn der Mediator irgendwo auftaucht. „Ich hatte einen Schüler mit einer hohen Anzahl an Fehlzeiten in der Klasse“, erzählt Lehrer Matthias Seyfferth. „Gemeinsam haben wir fast 20 Hausbesuche gemacht. Ohne Stani hätte ich wahrscheinlich keinen Fuß in die Tür bekommen.“

Der Einsatz für die Rom*nja-Kinder trägt Früchte. Die Probleme sind weniger geworden. Viele Schülerinnen und Schüler, die anfangs oft unentschuldigt gefehlt haben, kommen jetzt regelmäßig zum Unterricht. In der Community hat sich herumgesprochen, dass die Anne-Frank-Gesamtschule ihre Kinder ehrlich willkommen heißt. Und dass da jemand ist, der neben Romanes auch noch Serbisch, Bosnisch, Kroatisch, Mazedonisch und Bulgarisch spricht und hilft. Auch das Lehrerkollegium hat Verständnis für die Bedürfnisse der Rom*nja entwickelt – und bittet bei Schwierigkeiten aktiv um Rat.

Alles wird dokumentiert: Staniša Duraković greift zu einem Ordner mit Unterlagen zum Bildungsmediatorenprogramm.
Lebhafter Austausch über Fragen des Schulalltags: Gabriela Lehmann vom Träger dobeq (links), Staniša Duraković (Mitte) sowie Schulsozialarbeiter Dirk Grunitz (rechts).

Bindeglied zwischen den Kulturen

Die Eltern profitieren ebenfalls von Durakovićs Anwesenheit. „Sie haben jetzt die Möglichkeit, mit der Schule zu interagieren. Sie lernen, dass es ganz normal ist, eine Romni oder ein Rom zu sein, und dass sie an unserer Schule keinen Rassismus befürchten müssen“, sagt Duraković. Was für ein wichtiges „Bindeglied“ der Mediator ist, betont auch Schulsozialarbeiter Dirk Grunitz. „Rom*nja-Familien waren uns bisher kaum zugänglich. Jetzt haben wir Stani, der sich in die Personen hineinfühlen kann und uns Türen öffnet“, sagt er.

Für seine Arbeit erhielt der Bildungsmediator eine Basisqualifizierung, den Rest lernt er „on the job“ und durch begleitende Fortbildungen. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen von anderen Schulen tauscht er sich intensiv aus und hat für neue Mediatorinnen und Mediatoren sogar ein eigenes Konzept geschrieben. „Damit die Neuen besser ankommen“, sagt er. Wenn es nach Schulleiter Bernd Bruns ginge, hätte Duraković eine Voll- statt einer Teilzeitstelle. „Wir möchten, dass die Nordstadt von einem Quartier des Ankommens zu einem Quartier des Bleibens wird. In der Schule leistet das Mediatorenprogramm dazu einen wertvollen Beitrag.“

Über „Vast vasteste – Hand in Hand" und weitere Programme

Bereits während der Pilotphase des Dortmunder Projekts (2019 bis 2023) hat das nordrhein-westfälische Ministerium für Schule und Bildung mit „Vast vasteste – Hand in Hand in NRW“ zum Schuljahr 2021/2022 ein Landesprogramm im Rahmen des Masterplans Grundschule ausgerollt. Neben der Stadt Dortmund sind sechs weitere Kommunen Teil des Landesprogramms. „Vast vasteste – Hand in Hand: Roma als Bildungsmediator*innen“ in Dortmund ist eine Maßnahme der Stadt Dortmund, in Kooperation mit dem Ministerium für Schule und Bildung NRW, der dobeq GmbH, der AWO UB Dortmund und der GrünBau gGmbH.

Das Konzept sieht vor, dass pro Schule eine Mediatorin oder ein Mediator eingesetzt wird, die oder der in einem Tandem mit einer Lehrkraft der Schule Konzepte und Strategien entwickelt, um die Teilhabe der Schülerinnen und Schüler zu verbessern, diese erfolgreicher zu beschulen und so eine vertrauensvollere Zusammenarbeit von Schule und Familien zu erreichen. Hierzu werden durch das Ministerium für Schule und Bildung NRW Stellenanteile an den teilnehmenden Schulen bereitgestellt.

Andere Städte haben ähnliche Programme aufgesetzt. In Berlin beraten beispielsweise Mütter mit Migrationshintergrund im „Landesprogramm Stadtteilmütter“ Familien und helfen so, die Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern mit Migrations- oder Fluchtgeschichte zu verbessern. Und in München setzt sich der Jugendhilfeträger „Madhouse“ für die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Rom*nja in verschiedenen Lebensbereichen ein.

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