Jahrgangsübergreifender Unterricht

„Wir reden heute deutlich mehr über Stärken als über Defizite“

Schulleiter Rüdiger Schrade-Tönnißen und sein Team haben auf jahrgangs­übergreifendes Lernen umgestellt. Obwohl die Arbeitslast nun höher ist, gewinnen am Ende alle.

Herr Schrade-Tönnißen, im Schuljahr 2018/2019 haben Sie zunächst mit einer Klasse das jahr­gangsübergreif­ende Lernen, kurz JüL, erprobt, bevor Sie das Konzept 2023/2024 in allen Klassen umsetz­ten. Wie kam es dazu?

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Rüdiger Schrade-Tönnißen: Mit der Aufhebung der Schulbezirksgrenzen 2008/2009 und der verstärkten Zuwanderung veränderte sich auch die soziale Struktur der Schule sehr stark. Es fingen deutlich mehr Kinder ohne Deutschkenntnisse und mit sonder­pädagogischem Förderbedarf bei uns an. Sie machen mittlerweile immerhin ein Drittel unserer Schülerschaft aus, was den Unterricht in den Anfangs­klassen erheblich erschwert. Gleichzeitig bemerkten wir, dass der traditionelle schulbuch­orientierte Unterricht unsere Schülerinnen und Schüler überforderte, sie emotional an ihre Grenzen kamen. Das führte nicht selten zu Konflikten. Außerdem hatte sich auch die Zusammensetzung unseres Teams verändert. Aus einer sehr stark multiprofessionell geprägten Per­spektive setzte sich die Erkenntnis durch, dass wir das Potenzial der Kinder nur ausschöpfen können, wenn wir den Unterricht individueller gestalten. Unsere Aufgabe ist es, eine Schule für die Kinder im Viertel zu sein. Alle, die bei uns lernen wollen, sollen das auch können. Jedes einzelne Kind fordert uns dazu auf, unser Schul­system so anzupassen, dass wir diesem Auftrag gerecht werden. Das klappt mit JüL nun richtig gut.

„Alle, die bei uns lernen wollen, sollen das auch können. Jedes einzelne Kind fordert uns dazu auf, unser Schulsystem so anzupassen, dass wir diesem Auftrag gerecht werden.“

Worin liegen die Vorteile für die Kinder, aber auch für die Lehrkräfte?

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Schrade-Tönnißen: Ähnlich wie im System Familie lernen die Kleinen im Zusammenleben von den Großen. Im Laufe der vier beziehungsweise fünf Jahre verändert sich jedoch die Rolle jedes Kindes in der Gruppe: Die Kleinen wachsen ganz natürlich in größere Verantwortungs­bereiche hinein. Das stärkt das Selbstbewusstsein der Kinder in den höheren Klassen und fördert gleichzeitig die soziale Ein­gewöhnung und den Lernerfolg der Jüngsten. So haben wir kaum noch weinende Kinder in den ersten Klassen. Außerdem können unsere Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen Tempo lernen. Jene, die in einem Fach weiter sind, bearbeiten Inhalte aus höheren Jahrgängen, während andere mehr Zeit für das Grundlagenwissen haben. Diese Wahlmöglichkeiten stärken die Motivation und steigern die Arbeits­haltung sowie die Konzentration im Unterricht, da jedes Kind auf seinem individuellen Lernweg begleitet wird. Für die Lehrkräfte wiederum ist der jahrgangsübergreifende Unterricht zwar eine anspruchsvolle und zeit­intensive, aber auch eine bereichernde Aufgabe. Sie können die Kinder intensiver und individueller fördern, was die Zufriedenheit im Arbeitsalltag steigert. Sie erleben, wie Schülerinnen und Schüler durch die gezielte För­derung und das angepasste Lerntempo deutliche Erfolge erzielen, was unge­heuer sinnstiftend ist. Wir reden heute deutlich mehr über Stärken als über Defizite. Da kriegt Schule einen ganz anderen Charakter.

Wie gehen Sie mit dem gestiegenen Aufwand in Ihrem Team um?

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Schrade-Tönnißen: Keine Frage, JüL bedeutet mehr Arbeit. Um die Kinder individuell zu fördern, ihren Lernfort­schritt zu begleiten und den Unterricht flexibel zu gestalten, bedarf es einer sehr sorgfältigen Vorbereitung. Diese Arbeit ist anspruchsvoll und erfordert sehr viel Engagement. Da das auch allein nicht mehr zu leisten ist, arbeiten wir an funktionierenden Teamstrukturen. Eine klare Aufgaben­teilung und gemeinsame Fallbe­sprechungen etwa tragen dazu bei, mit möglichst passenden Antworten auf die unter­schiedlichen Bedarfe der Kinder reagieren zu können. Die Kolleginnen und Kollegen besuchen viele Fortbildungs­veranstaltungen. Auch nutzen wir unsere gemeinsame Zeit, um uns fachlich und organi­satorisch auf neue Situationen einzustellen. Schließlich verstehen wir uns als lernende Organisation. Ich glaube fest daran, dass sich unser Einsatz auszahlt. Jetzt schon schneiden unsere Kinder bei Ver­gleichstests besser ab als in allen Jahren zuvor, und das wird sich in den kommenden Jahren weiter positiv entwickeln.
Foto: © Britta Tribowski
Rüdiger Schrade-Tönnißen war 15 Jahre lang Konrektor der Grundschule Im Brömm in Gelsen­kirchen, bis er 2014 die Leitung übernahm. Er ist Verfechter des jahrgangs­übergreifenden Unter­richts, den er für die geeignetste Organisations­form für Schulen des Gemeinsamen Lernens in sozialen Brennpunkten hält.

Jahrgangsübergreifendes Lernen – kurz erklärt

Unter jahrgangsübergreifendem Unterricht versteht man die Aufhebung der jahrgangs­gebundenen Klassenstrukturen. In dieser Organisationsform lernen die Schülerinnen und Schüler etwa der Klassen 1 bis 4 alters­gemischt und je nach Lernstand gemeinsam. Voraussetzung dafür ist laut der Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule NRW (kurz QUA-LiS NRW) ein umfassend ausgearbeitetes Konzept, das die gesamte Schulstruktur und alle an der Umstrukturierung Beteiligten, also auch die Lehrkräfte, einbezieht. Ziel dieser Unterrichtsform ist, so das Schulministerium in NRW, „die individuelle Förderung jedes Kindes“: Leistungsstarke Kinder können am Lernangebot höherer Jahrgänge teilnehmen – leistungsschwächere Schüler­innen und Schüler bekommen die für sie nötige Lernzeit, „um tragfähige Grundlagen des Lernens“ auszubauen, wie Rüdiger Schrade-Tönnißen es beschreibt. Damit können sie erfolgreich auch in den höheren Klassen weiterarbeiten. Falls ein Kind dafür ein weiteres Jahr benötigt, entfallen eine Wiederholung und auch ein Klassenwechsel. Die Kinder bleiben bei ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer und in der Freundesgruppe. Das ist auch ein Vorteil für Kinder, die in der Lage sind, die Grundschule in drei statt in vier Jahren zu durchlaufen.

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