In Ihrem Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ schildern Sie und Ihre Co-Autoren Aladin El-Mafaalani und Klaus Peter Strohmeier, dass Schulen den diversen und heterogenen Schülerinnen und Schülern in unserem Land nicht mehr gerecht werden. Was beobachten Sie aktuell?
01
Auf der Suche nach einem Weg hin zu mehr Chancengerechtigkeit setzen Sie vor allem auf Nachbarschaften. Welche Rolle können hier Community-Zentren spielen?
02
Kurtenbach: Schule ist eine Sonderumwelt, abgetrennt von ihrer Umgebung. Bei der Entwicklung des Ganztagsbetriebs bauen wir wieder eigene Institutionen an den Schulen auf. Zugleich klagen Lehrkräfte ohnehin schon darüber, dass sie neben Sprachförderung, Gesundheitsförderung, Demokratieförderung, Umweltbildung und vielem mehr zu wenig Zeit für ihre Kernaufgabe, den guten Unterricht, haben. Wir sollten uns deshalb für den Sozialraum öffnen und die Ressourcen dort systematisch mit Schulen verknüpfen.
Die Nachbarschaften, in denen die Schulen liegen, bieten viel Potenzial, um gemeinsam Verantwortung für Kinder zu übernehmen und damit die Schulen zu entlasten. Die örtlichen Feuerwehren und Sportvereine, die Nachwuchs suchen, können zum Beispiel einmal wöchentlich ein Training im Nachmittagsbereich anbieten. Eine Bücherei könnte eine Kreativwerkstatt anbieten und die Familienberatungsstelle eine offene Sprechstunde. Community-Zentren, die neben den Schulen existieren und strukturell mit ihnen verzahnt sind, können die ohnehin vorhandenen Kompetenzen also systematisch zur Verfügung stellen. Das bringt Synergieeffekte, auch mit Blick auf den Fachkräfte- und Raummangel.
„Es braucht einen Kulturwandel.“
Sebastian Kurtenbach, Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik an der FH Münster und Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum.
Als Familiengrundschulzentren öffnen sich Schulen für den Sozialraum. Wie müssen sie ausgestaltet sein, damit Kinder und Jugendliche wirklich chancengerecht aufwachsen können?
03
Kurtenbach: FGZ machen schon achtzig Prozent von dem, was wir uns vorstellen. Ich wünsche mir hier aber noch mehr Platz zum Beispiel für berufstätige Eltern. Dass sie etwa per PayPal für fünf Euro am Tag einen Schreibtisch in einem Co-Working-Space mieten können, anstatt im Homeoffice am Küchentisch zu arbeiten – und ein Mittagessen in der Schulmensa bekommen. Auch sollten sich beispielsweise Nachbarschaftsinitiativen abends in einem Community-Zentrum treffen können. Wenn die Lebenswelten ineinandergreifen, wächst das Vertrauen zwischen Eltern und Schule, OGS, Vereinen und anderen benachbarten Einrichtungen. Dafür braucht es bauliche Anpassungen, die gemeinsam mit den Kindern und mit Blick auf die Ressourcen im Stadtteil entwickelt werden sollten.
Die Gemeinschaft sollte also echte Verantwortung übernehmen, und das hilft am Ende allen. Viele Kinder sind heute acht Stunden täglich in der Betreuung. Doch wenn eine Drittklässlerin oder ein Drittklässler nicht richtig lesen kann, werden häufig noch die Eltern angerufen und um ihr Mitwirken gebeten. Familien können das nicht leisten, Schulen allein auch nicht. Es braucht einen Kulturwandel.