Bildungsgerechtigkeit

„Die Gemeinschaft sollte echte Verantwortung übernehmen“

Jedes Kind soll gut lernen können, doch Schulen und Eltern können das allein nicht leisten. Forscher Sebastian Kurtenbach sieht eine Chance in Community-Zentren.

In Ihrem Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ schildern Sie und Ihre Co-Autoren Aladin El-Mafaalani und Klaus Peter Strohmeier, dass Schulen den diversen und heterogenen Schülerinnen und Schülern in unserem Land nicht mehr gerecht werden. Was beobachten Sie aktuell?

01

Sebastian Kurtenbach: Lehrkräfte sowie Sozialarbeiter­innen und Sozial­arbeiter denken oft noch in einer bi­nären Logik. Zum Beispiel: Es gibt Kinder mit Migrations­hinter­grund, die Sprach­förderung brauchen, und Kinder ohne Migrationshintergrund, die sie nicht brauchen. Doch so einfach ist das nicht. Wenn wir Kinder fragen, welche Sprache sie sprechen, welche Religion sie haben, ob einer ihrer Elternteile nicht in Deutschland geboren ist, merken wir: Hier gibt es eine unglaub­liche Vielfalt, eine Superdiversität. Kinder star­ten mit unterschiedlichsten Voraussetzungen ins Leben und in jeden einzel­nen Schul­tag – je nachdem, wie ihre Familie auf­gestellt ist, in wel­chem Stadtteil sie leben, auf welche Kita oder Schule sie gehen, ob sie Zugang zu Ver­einen haben und zu Men­schen, die es gut mit ihnen meinen. Schulen müssen das im Blick haben. Wir als Gesellschaft aber auch.

Auf der Suche nach einem Weg hin zu mehr Chancengerech­tigkeit setzen Sie vor allem auf Nachbarschaften. Welche Rolle können hier Community-Zentren spielen?

02

Kurtenbach: Schule ist eine Sonder­umwelt, abgetrennt von ihrer Umge­bung. Bei der Entwicklung des Ganz­tags­betriebs bauen wir wieder eigene Institu­tionen an den Schulen auf. Zugleich klagen Lehrkräfte ohnehin schon da­rüber, dass sie neben Sprach­förderung, Gesundheits­förderung, Demokratie­förderung, Umweltbildung und vielem mehr zu wenig Zeit für ihre Kern­aufgabe, den gu­ten Unterricht, haben. Wir sollten uns deshalb für den Sozialraum öffnen und die Ressourcen dort systema­tisch mit Schulen verknüpfen.

Die Nachbarschaften, in denen die Schulen liegen, bieten viel Potenzial, um gemeinsam Verantwortung für Kinder zu übernehmen und damit die Schulen zu entlasten. Die örtlichen Feuerwehren und Sportvereine, die Nachwuchs su­chen, können zum Beispiel einmal wö­chentlich ein Training im Nachmit­tags­bereich anbieten. Eine Bücherei könnte eine Kreativwerkstatt anbieten und die Familien­beratungsstelle eine offene Sprechstunde. Community-Zentren, die neben den Schulen existieren und struk­turell mit ihnen verzahnt sind, können die ohnehin vorhanden­en Kom­petenzen also systematisch zur Ver­fügung stel­len. Das bringt Synergie­effekte, auch mit Blick auf den Fachkräfte- und Raummangel.

„Es braucht einen Kulturwandel.“

Als Familiengrund­schulzentren öffnen sich Schulen für den Sozial­raum. Wie müssen sie ausgestaltet sein, damit Kinder und Jugendliche wirklich chancengerecht aufwachsen können?

03

Kurtenbach: FGZ machen schon achtzig Prozent von dem, was wir uns vorstel­len. Ich wünsche mir hier aber noch mehr Platz zum Beispiel für berufs­tätige Eltern. Dass sie etwa per PayPal für fünf Euro am Tag einen Schreibtisch in einem Co-Working-Space mieten können, anstatt im Home­office am Küchentisch zu arbeiten – und ein Mit­tagessen in der Schulmensa bekom­men. Auch sollten sich beispielsweise Nachbarschaftsinitiativen abends in einem Community-Zentrum treffen können. Wenn die Lebens­welten inei­nandergreifen, wächst das Vertrauen zwischen Eltern und Schule, OGS, Vereinen und anderen benachbarten Einrichtungen. Dafür braucht es bau­liche Anpassungen, die gemeinsam mit den Kindern und mit Blick auf die Ressourcen im Stadtteil entwickelt werden sollten.

Die Gemeinschaft sollte also echte Verantwortung über­nehmen, und das hilft am Ende allen. Viele Kinder sind heute acht Stunden täglich in der Be­treuung. Doch wenn eine Drittklässlerin oder ein Drittklässler nicht richtig lesen kann, werden häufig noch die Eltern angerufen und um ihr Mitwirken ge­beten. Familien können das nicht lei­sten, Schulen allein auch nicht. Es braucht einen Kulturwandel.

Foto: © Anna Haas
Sebastian Kurtenbach ist Professor für Politik­wissen­schaft mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik an der FH Münster und Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum. Als Mitautor des Buchs „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ analysiert er die Benach­teiligung von Kindern in einer alternden Gesell­schaft – auch im Bildungs­system.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


… im Postfach

Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit den besten Geschichten.

[sibwp_form id=1]

Das könnte Sie auch interessieren:

Bitte beachte unsere Netiquette.

Auf SchuB möchten wir den fachlichen Austausch der Schulen im Brennpunkt untereinander fördern. Daher freuen wir uns sehr über Eure Meinung zu unseren Beiträgen. Für einen respektvollen und konstruktiven Austausch bitten wir Euch folgende Regeln zu beachten:
Wir danken Euch für Eurer Verständnis und Eure Mitwirkung und wünschen Euch viel Freude beim Kommentieren.

Wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden?

Wie sind Sie auf uns Aufmerksam geworden