Es ist eine Situation, in der viele Eventmanagerinnen und -manager ins Schwitzen geraten würden: Noch eine Woche bis zur Veranstaltung, zehn Podiumsgäste werden erwartet, und nichts ist vorbereitet. Die Inhalte, der Ablauf, die Zuständigkeiten im Team, all das muss noch festgelegt werden. Doch Tobias Berresheim wirkt entspannt. „Gucken wir mal“, sagt er im Vorfeld der Podiumsdiskussion, die am 14. September 2025 an seiner Schule stattfand. Und: „Es geht uns nicht darum, die beste Show zu machen.“ Worum geht es dann?
Seit zwölf Jahren unterrichtet Tobias Berresheim Sozialwissenschaften (SoWi) am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal. Bei der Bundestagswahl 2013 durften einige seiner Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal wählen. „Und wie das halt so ist“, erzählt Berresheim, „kennt man die Kandidierenden vor Ort meist gar nicht. So entstand die Idee, sie einfach mal einzuladen.“
„Man kennt die Kandidierenden vor Ort meist gar nicht. So entstand die Idee, sie einfach mal einzuladen.“
Tobias Berresheim Lehrkraft für das Fach Sozialwissenschaften (SoWi) am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal
Inzwischen ist das Format „WDG kontrovers“ zu einer Tradition geworden. Vor Landtagswahlen und Europawahlen, aber auch zu aktuellen Themen wie der Klimakrise oder dem 75. Jubiläum des Grundgesetzes werden Politikerinnen und Politiker in die Schule eingeladen, um sich den Fragen der Jugendlichen zu stellen. Die Vorbereitung und die Durchführung der Veranstaltung liegen dabei stets in den Händen der Schülerschaft. So auch jetzt, wenn anlässlich der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen die Kandidatinnen und Kandidaten für das Wuppertaler Oberbürgermeisteramt in der Schule vorbeikommen.
Von Präsentation bis Moderation: Jede und jeder hat eine Aufgabe
Zuständig sind der aktuelle SoWi-Grundkurs von Tobias Berresheim und der Leistungskurs seines Kollegen Vincenzo Costanzo. Dass eine Woche vor dem Event noch nichts steht, liegt nicht an ihnen, sondern an den Umständen: Die OB-Wahl findet gleich zu Beginn des Schuljahres statt, und die Kurse wurden gerade erst neu zusammengesetzt. Der Zeitplan sieht deshalb so aus: Planung am Mittwoch, Generalprobe am Donnerstag, Live-Event am Freitag. Gucken wir mal …
Freitagvormittag, eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn. Die Bühne der Aula ist längst vorbereitet, Wasserflaschen und Mikrofone stehen bereit, die Kandidierenden treffen ein, und der Saal füllt sich. Die komplette Oberstufe der Schule wird zuschauen. Phiphi und Siraj, beide 17 Jahre alt, tragen bereits ihre Headset-Mikros. Letztes Jahr saßen sie noch im Publikum, gleich werden sie als Moderationsteam auf der Bühne stehen. Aufgeregt? Nö, eigentlich nicht. „Es wurde gefragt, wer welche Aufgabe übernehmen will. Und ich habe kein Problem damit, auf der Bühne zu stehen“, erzählt Phiphi, die neben der Schule als Schauspielerin jobbt.
Doch Rampenlicht hin oder her: Sie und ihr Co-Moderator Siraj zeigen keinerlei Starallüren, sondern betonen die gute Zusammenarbeit im Team. „Wir sind 40 oder 50 Schülerinnen und Schüler, und alle haben hier was zu tun“, sagt Siraj. „Der Empfang und die Versorgung der Kandidierenden zum Beispiel, die Vorbereitung der Präsentation und der Zuschauerumfrage, die Technik und die Moderation der verschiedenen Themenblöcke.“
Läuft! Auch Salam ist, wie alle Schülerinnen und Schüler, die mit der Durchführung der Veranstaltung betraut sind, für das Gelingen des Formats zuständig.
Nah dran an der Lebenswelt der Jugendlichen
Wohnen und Gesundheit, Bildung und Kultur, Sicherheit und Mobilität sind die Themenfelder, die an diesem Freitag auf der Agenda stehen. Bei der Planung der Inhalte sind die Schülerinnen und Schüler genauso frei wie bei allen anderen Aufgaben. Die Lehrkräfte geben nur ein paar Einordnungen zum politischen System und zu den Aufgabenfeldern der jeweiligen politischen Rolle. „Dass man eine OB-Kandidatin oder einen OB-Kandidaten nicht fragen muss, wie sie oder er den Gazakrieg beenden will, so etwas klären wir natürlich“, sagt Tobias Berresheim. „Den Rest entscheiden die Schülerinnen und Schüler selbst.“
Im Lauf der Veranstaltung wird schnell deutlich, dass es genügend passende Fragen gibt, die den Jugendlichen unter den Nägeln brennen. „Sind Sie dafür, dass die Schwebebahn auch nach 23 Uhr fährt?“, „Wie wollen Sie die Sicherheit in Nachtbussen erhöhen?“, „Was planen Sie, um die Wuppertaler Schulen trotz angespanntem Haushalt dauerhaft zu finanzieren?“. Die Publikumsfragen reichen von dem Wunsch, coolere Geschäfte in die Wuppertaler Innenstadt zu bringen, bis hin zum Anliegen, geschützte Räume für die queere Community zu schaffen. Alles Themen, die die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler – und die Kommunalpolitik – direkt betreffen.
Zum Dialog mit der Politik gehört auch Kritik
Vor allem aber geht es Tobias Berresheim darum, „dass die Schülerinnen und Schüler sich selbstwirksam wahrnehmen. Und dass sie merken: Politik ist kein abstraktes Thema im Fernsehen oder auf TikTok, sondern sie wird von Menschen gemacht, mit denen ich sprechen kann. Und wenn ich ein Anliegen habe, kann ich das formulieren.“
Einige der Kandidierenden müssen sich deutliche Kritik anhören. Etwa Mira Lehner von der PARTEI, deren satirische Bemerkungen zwar viele Lacher ernten, aber nicht bei allen gut ankommen: „Wir brauchen ernsthafte Antworten auf ernsthafte Probleme“, schimpft ein Schüler aus dem Publikum in ihre Richtung. Kurz darauf wird FDP-Kandidat Marcel Hafke für seine Instagram-Posts rund um das Thema Halal-Ernährung an Schulen kritisiert. „Ich finde Ihre Herangehensweise, Wahlkampf zu führen, sehr fragwürdig“, sagt eine Schülerin. „Und ich frage mich: Sollte so jemand Oberbürgermeister unserer Stadt werden?“
Die AfD? „Wir kümmern uns um wichtigere Sachen“
Man kann sich vorstellen, wie viel Kritik der Kandidat der örtlichen AfD eingesteckt hätte. Aber er wurde nicht eingeladen. Es ist vielleicht die einzige Entscheidung, bei der Lehrer Berresheim nicht mit sich reden lässt: „Wir sind eine Schule ohne Rassismus und wollen Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten keine Bühne geben. Da steht auch die Schulleitung voll dahinter.“ In der Schülerschaft ist diese Entscheidung umstritten. Manche sehen die Meinungsfreiheit eingeschränkt, andere glauben, die AfD durch kritische Fragen entlarven zu können.
Die meisten scheinen aber einverstanden zu sein. Als Siraj zu Beginn der Veranstaltung erklärt, dass die AfD nicht dabei ist, gibt es großen Applaus. Seine Mitschülerin Salam sagt, warum auch sie die Entscheidung richtig findet: „Ich glaube, wenn die AfD hier wäre, dann würden nur noch Ausländerfragen kommen und viele Hate-Kommentare. Deshalb haben wir uns gedacht, wir lassen lieber die AfD raus und kümmern uns um wichtigere Sachen.“
Der Verlauf der Podiumsdiskussion gibt der Schülerin recht: zwei Stunden, in denen viele lokalpolitisch relevante Themen besprochen werden. Übrigens: Auch organisatorisch läuft alles glatt. Das Timing stimmt, die Technik läuft, das Teamwork funktioniert. Nachdem das Publikum abgestimmt hat, wer von den Kandidierenden am überzeugendsten war (Sieger ist mit großem Abstand der parteilose Kandidat Guido Gallenkamp), beendet Siraj die Veranstaltung mit den Worten: „Geht wählen!“ Ein Appell, dem sicher viele der ab 16-jährigen Wahlberechtigten am 14. September gefolgt sind.