Innovative Schulentwicklung

Viel mehr als Deutsch und Mathe

Die Gemeinschaftsgrundschule Sonnenstraße ist nicht nur für Kinder ein Wohlfühlort, sondern auch für deren Eltern. Zu Besuch in einer ziemlich lebendigen Schule.

Wer die Oktopusklasse der Gemeinschaftsgrundschule Sonnenstraße besucht, läuft unter einer Schnur mit bunten Flaggen hindurch. In der ersten Klasse sitzen Kinder aus acht verschiedenen Ländern: von Albanien und Indien über Marokko und Polen bis zur Ukraine und Vietnam. Mehr als 90 Prozent von ihnen sprechen zu Hause kein Deutsch. Während sich einige im Unterricht trotzdem gut verständigen können, verstehen andere kein Wort.

Die Schule liegt im Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk, wo die Armutsrate und auch der Migrationsanteil höher sind als anderswo in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt. Über 70 Prozent der Eltern beziehen hier soziale Hilfeleistungen. Das Familiengrundschulzentrum (FGZ) Sonnenstraße mit seinen 319 Kindern gehört dem aktualisierten Sozialindex von Nordrhein-Westfalen zufolge zu den fünf Prozent der Grundschulen, die landesweit am stärksten belastet sind.

Besucher der Oktopusklasse werden auf verschiedenen Sprachen begrüßt.

Kümmert sich um die Anliegen der Eltern: Zerga Tulan, Koordinatorin des Familiengrundschulzentrums

„Wir machen weiter, sonst funktioniert es nicht“

Wer Schulleiter Kornelius Knettel nach den Herausforderungen fragt, bekommt ehrliche Antworten: „In unseren Klassen sitzen fast 30 Kinder: Sehr viele sprechen kein Deutsch, haben kaum Zeit im Kindergarten verbracht und im häuslichen Umfeld nicht die Unterstützung, die man sich wünscht. Es gibt extrem viele Erstklässlerinnen und Erstklässler, die Schwierigkeiten haben, drei Minuten still zu sitzen und konzentriert zu arbeiten.“ Wenn er das sagt, klingt er aber nicht desillusioniert. Denn Knettel, ausgebildeter Sonderpädagoge und seit zehn Jahren an der Schule, ist ein Macher. „Wir jammern nicht. Mein Kollegium weiß, dass ich das nicht hören will. Das hilft uns nicht. Wir machen weiter, sonst funktioniert es nicht.“

In der Oktopusklasse dreht sich an diesem Vormittag alles um den Buchstaben P. Die Erstklässlerinnen und Erstklässler sitzen mit ihrem Lehrer Bernd Ruzicska im Stuhlkreis. Mit viel Geduld und ruhiger Stimme gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen. „Welche Worte fallen euch mit P ein?“, fragt er. Die Antworten folgen prompt: Papa, Puppe, Pipi, Popo. Die Kinder kichern. „Wo steht das P bei dem Wort Apfel? Am Anfang, in der Mitte oder am Ende?“ So geht es ein paar Minuten, dann erklärt der Pädagoge das Arbeitsblatt, das er danach austeilen wird. „Wenn ihr die erste Seite fertig habt, könnt ihr auch mit dem Tablet oder dem Schulbuch weiterarbeiten. Das sollt ihr selbst entscheiden!“

Das einzelne Kind im Blick: Lehrer Bernd Ruzicska schafft es mit viel Geduld und Einfühlrungsverögen, dass die Kinder dem Unterricht aufmerksam folgen.

Individuell fördern, ohne zu überfordern

„Wir stecken viele Ressourcen in die ersten beiden Jahre“, so Ruzicska. „Einige Kinder brauchen sehr viel Zuwendung und Anleitung. Wir fördern die Kinder da, wo sie stehen – ohne sie zu überfordern.“ In seiner Klasse lernen Mädchen und Jungen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf; ein Kind ist gerade bei der Ergotherapie, ein anderes übt mit einer Ehrenämtlerin das Lesen. Um das alles leisten zu können, braucht es vor allem genügend Personal. „Wir haben nur acht grundständig ausgebildete Grundschullehrkräfte für zwölf Klassen. Diese Zahl sagt alles“, macht Knettel deutlich.

Ein Problem, mit dem die Schule nicht alleine dasteht. Eine Umfrage der Wübben Stiftung Bildung aus dem Jahr 2023 zeigt: Von den knapp 150 Leitungen der Schulen in Brennpunkten gaben 75 Prozent an, dass die personellen Ressourcen an ihren Schulen eher schlecht oder sehr schlecht sind. Da deutschlandweit an nahezu allen Schulen Lehrkräfte gesucht werden, ist es für jene in Brennpunkten noch schwieriger, Personal zu finden. „Wer an diese Schule kommt, muss es wollen. Hier bringt man nicht nur Deutsch und Mathe bei, es ist viel mehr als das“, sagt Knettel, selbst Vater von sechs Kindern.

„Wir sind nicht nur eine Schule und ein Lernort für die Kinder, sondern ein Begegnungszentrum für die ganze Familie.“

Selbstvertrauen durch Mitgestalten

Im Lernzentrum – dem „Herz der Schule“ – wird das umgesetzt, was der Rektor und sein engagiertes Team in einem intensiven Schulentwicklungsprozess erarbeitet haben: das Konzept der Lernwege. Entstanden ist es im Rahmen des Programms „impakt schulleitung“ der Wübben Stiftung Bildung. Es sieht vor, dass die Kinder eine Stunde am Tag selbst entscheiden, ob sie lesen, schreiben oder rechnen möchten – ganz in ihrem Tempo und nach ihren individuellen Voraussetzungen. Aus bunten Fächern können sie sich Aufgabenblätter nehmen, die die Lehrkräfte entwickelt haben. Die Materialien sind an den Unterricht angelehnt, aber keine Voraussetzung für ihn und umgekehrt. Die Sammlung, die seit sechs Jahren genutzt wird, wächst stetig und wird immer wieder angepasst.

Jeweils vier bis sechs Kinder aus den Klassen 1 bis 4 lernen gemeinsam im Lernzentrum. „Durch die Lernwege merken die Kinder, dass sie eine Verantwortung haben und selbst mitgestalten können“, sagt Lehrer Bernd Ruzicska. Das gibt ihnen Selbstvertrauen und motiviert sie. Die Betreuung der Lernwege übernehmen etwa Lehramtsstudierende oder Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die Lehrkräfte selbst haben in dieser Stunde dann mehr Zeit für weniger Kinder in ihrer Klasse.

Vor zwei Jahren kam noch eine weitere Entwicklung dazu, die der Gemeinschaftsgrundschule sogar einen neuen Namen beschert hat: Die Schule ist zum  FGZ Sonnenstraße geworden. Unter diesem Dach sammeln sich nun alle Angebote – angefangen vom Unterricht über die offene Ganztagsschule bis hin zur Schulsozialarbeit und dem Elterncafé. Ziel der Familiengrundschulzentren ist es, die Eltern in Brennpunkten zu unterstützen sowie Erziehungs- und Bildungspartnerschaften auszubauen, um auf diese Weise die Bildungschancen der Kinder zu verbessern. „Wir sind nicht nur eine Schule und ein Lernort für die Kinder, sondern ein Begegnungszentrum für die ganze Familie“, betont Zerga Tulan, Koordinatorin des FGZ.

Im Lernzentrum lernen die Kinder im eigenen Tempo und nach individuellen Voraussetzungen. So merken sie, dass sie selbst mitgestalten können.

„wir bekommen unglaublich viel zurück, vor allem von den Kindern, die besonders viel Hilfe benötigen. Das ist superschön.“

Anlaufstelle für Kinder – und ihre Eltern

Das FGZ Sonnenstraße ist eines von drei Zentren in Düsseldorf und mehr als 150 in Nordrhein-Westfalen. Welche Angebote ein Familiengrundschulzentrum macht, entscheiden die Akteurinnen und Akteure vor Ort. In der Sonnenstraße hat das Kollegium auch die Kinder und Eltern gefragt, was sie sich von ihrer Schule wünschen. Die Ideen wurden gesammelt, Workshops durchgeführt, gemeinsam Leitgedanken und ein großes Wimmelbild entwickelt. Nun gibt es noch vielfältigere Angebote, die zusammen mit Ehrenamtlichen sowie Kooperationspartnerinnen und -partnern durchgeführt werden: etwa Eltern-Kind-Nachmittage, Sprach-, Koch- und Yogakurse und die Möglichkeit, im Unterricht zu hospitieren.

Zerga Tulan freut sich über den Erfolg der Angebote: „Egal, mit welcher Frage die Eltern kommen, wir schicken niemanden weg oder sagen, dass wir dafür nicht zuständig sind. Wir haben im Sozialraum zahlreiche Kontakte geknüpft und kennen viele Akteurinnen und Akteure, von denen immer eine oder einer weiterhelfen kann.“ Das schafft Vertrauen und wirkt auf vielen Ebenen. Der zugegebenermaßen große Aufwand lohnt sich: „Wir haben diesen Prozess vorangetrieben, während wir alle anderen Aufgaben normal weiter erledigt haben“, erzählt Lehrer Ruzicska. „Aber wir bekommen unglaublich viel zurück, vor allem von den Kindern, die besonders viel Hilfe benötigen. Das ist superschön.“

Foto: © Peter Gwiazda

Kornelius Knettel leitet das Familiengrundschulzentrum Sonnenstraße in Düsseldorf.

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