Wenn Borussia Dortmund einen Titel gewinnt, drehen die Fans bei ihrem Korso durch die Stadt immer mehrere Ehrenrunden um den Borsigplatz. Hier wurde 1909 der Verein gegründet, am Borsigplatz schlägt das Herz des Fußballs. Wenn die BVB-Fans längst abgereist sind, schlagen die Fußballherzen nur wenige Meter entfernt, am Max-Michallek-Platz, weiter. Im Fußballkäfig mit dem schwarz-gelben Vereinslogo trainieren die Kinder und Jugendlichen der Nordstadtliga. Immer mit Herzblut dabei: ihr Koordinator Mirza Demirović.
Der gebürtige Bosnier leitet das Kooperationsprojekt zwischen dem Jugendamt Dortmund, der AWO Streetwork und dem Fan-Projekt Dortmund e. V., das auch von der BVB-Stiftung „Leuchte auf“ unterstützt wird. Es bietet Kindern und Jugendlichen aus dem Dortmunder Norden eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Die Straßenfußballliga, bei der Mädchen und Jungen kostenfrei in selbst organisierten Teams trainieren und gegeneinander antreten, ist in der von sozialen Problemen geprägten Nordstadt eine beliebte Anlaufstelle. Alljährlich lockt sie die sagenhafte Zahl von rund 4.000 Teilnehmenden auf die Fußballplätze.
Eine Lebensgeschichte, die Vertrauen schafft
Für Demirović, den die meisten hier beim Vornamen rufen, ist die Leitung der Nordstadtliga nicht irgendein Job. „Es ist ein Way of Life, eine Einstellung“, sagt Mirza. Die Nordstadtliga hat er auf sein Bein tätowiert. Den Dortmunder Norden und seine Menschen kennt der zweifache Vater wie seine Westentasche, jahrelang war er hier als Streetworker unterwegs. Seit 2020 koordinierte er die Nordstadtliga ehrenamtlich, inzwischen ist die Leitung des Teamprojekts mit 65 Ehrenamtlerinnen und Übungsleitern sein Beruf. Die Menschen in der Nordstadt, von denen die meisten einen Migrationshintergrund haben, vertrauen Mirza ihre Kinder nicht ohne Grund an. Er hat für alle ein offenes Ohr, begegnet den Menschen auf Augenhöhe und sprüht nur so vor neuen Ideen. Es ist vor allem aber seine Lebensgeschichte, die bei den Familien Vertrauen schafft. Denn es könnte die von einem der Kinder sein, die hier zum Fußballtraining auflaufen.
1994 flüchtet Mirza im Alter von 17 Jahren vor dem Bosnienkrieg nach Dortmund. Von Deutschland weiß er da noch nicht viel, nur den BVB, den kennt er schon seit Kindertagen. Der Bruder eines Onkels, der bereits in Dortmund lebte, hatte ihm Ende der 80er-Jahre einen Wimpel geschenkt, den er über das Bett in seinem Kinderzimmer hängte. Er war es auch, der Mirzas Familie während des Krieges nach Deutschland einlud und ihr damit vielleicht das Leben rettete.
Vom Glanz des großen Fußballvereins trennen Mirza zu diesem Zeitpunkt jedoch noch Welten. Erst wollen die Behörden den einstigen Gymnasiasten nicht zur Schule gehen lassen. Nur über Umwege und mit der Hilfe einer Lehrerin kann er den Hauptschulabschluss nachholen. Von einer Ausbildung als Energieelektroniker erhofft er sich ein Bleiberecht – vergeblich. Er verlässt auf Drängen der Behörden das Land, verbringt die nächsten neun Jahre alleine in Pittsburgh/USA, wo er studiert und sich mit Nebenjobs über Wasser hält. Als es ihn zurück zu seiner Familie nach Dortmund zieht, wartet die nächste Hürde: Sein interdisziplinäres Studium „Liberal Arts and Science“ wird nicht anerkannt. Also studiert Mirza kurzerhand noch mal, angewandte Sozialwissenschaften an der FH Dortmund.
Überall steckt Bildung drin
Das Ausflugsziel, das Lernzentrum, ist kein Zufall. Denn Mirzas Geschichte erzählt auch vom Aufstieg eines geflüchteten Jugendlichen zum allseits respektierten Sozialarbeiter. Der Weg dorthin führt über die Bildung, das haben ihm seine Eltern, die Akademiker sind, immer wieder eingeschärft. Und Mirza selbst ist das lebende Beispiel dafür, dass man trotz hoher Hürden alles schaffen kann. Deshalb integriert das Team der Nordstadtliga Bildung überall im Fußball-Alltag, wo es nur geht. Darunter Selbstbehauptungs- oder Schwimmkurse für Mädchen, AGs für Sportjournalismus und Creative Writing an Schulen oder Hausaufgabenhilfe. Sogar Vertreterinnen und Vertreter der EU kamen schon auf dem Sportplatz vorbei, um über Europa zu informieren.
In der sich selbst organisierenden Liga lernen die Kinder ganz nebenbei Basisdemokratie und Eigenverantwortung. Fähigkeiten, die sie ihr Leben lang brauchen. „Die Angebote sind immer spielerisch und niederschwellig, dabei ist Fußball nur Mittel zum Zweck. Wir platzieren Themen so, dass die Kinder sich damit auseinandersetzen und gleichzeitig Fußball spielen können“, erklärt Mirza.
Die Nordstadtliga, sie ist so viel mehr als Fußball. Teilhabe ermöglichen, Werte wie Fairness, Respekt und Teamgeist vermitteln – das haben sich Mirza und sein Team auf die Fahnen geschrieben. „Ganz oft sehen wir in den Kindern unentdeckte Potenziale, die sonst nicht zum Vorschein kommen würden“, sagt Mirza.
Mit seinem Job hat sich Mirza einen Traum erfüllt. „Es war ein langer, harter Weg, aber jetzt arbeite ich hier bei der Nordstadtliga. Ich bin unendlich glücklich und dankbar dafür, dass ich durch meine Aufgabe jungen Menschen ein besseres Leben ermöglichen kann“, sagt Mirza. Manche der Jugendlichen, die er betreut hat, sind inzwischen erwachsen. Eine Familie hat ihren Sohn Mirza genannt.
Eine Antwort
Liebe Frau Barth-Modreker , tausend Dank für den lesenswerten Artikel über Mirza Demirović; er ist der Kopf, das Herz und die Seele der Nordstadtliga. „Ein Leben für die Liga“ – diese Überschrift trifft ins Schwarze. Herr Demirović lebt seine Berufung; die Kinder und Jugendlichen der Dortmunder Nordstadt bedeuten ihm alles. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern Ihres Artikels, dass auch sie etwas finden, dass sie ganz und gar erfüllt, um so ein Segen für die Welt zu werden. Manchmal hilft bei der Suche das Gebet … frei nach Dag Hammarskjöld, dem ehemaligen UN-Generalsekretär: „Bete, dass deine Einsamkeit der Stachel werde, etwas zu finden, wofür es sich lohnt zu leben – groß genug, um auch dafür zu sterben.“
PS: Danke auch an Frau Loitzsch für die beeindruckenden Bilder; sie sagen mehr als tausend Worte!