Porträt

Ein Leben für die Liga

Mirza Demirović hat aus der Dortmunder Nordstadtliga eine Institution für Bildung und Teilhabe gemacht. Beides ließ ihn einst selbst über sich hinauswachsen.

Wenn Borussia Dortmund einen Titel gewinnt, drehen die Fans bei ihrem Korso durch die Stadt immer meh­rere Ehren­runden um den Borsig­platz. Hier wurde 1909 der Verein gegründet, am Borsigplatz schlägt das Herz des Fußballs. Wenn die BVB-Fans längst abgereist sind, schlagen die Fußballherzen nur wenige Meter entfernt, am Max-Michallek-Platz, weiter. Im Fußball­käfig mit dem schwarz-gelben Vereinslogo trainieren die Kinder und Jugendlichen der Nordstadtliga. Immer mit Herzblut dabei: ihr Koordinator Mirza Demirović.

Der gebürtige Bosnier leitet das Kooperationsprojekt zwischen dem Jugendamt Dortmund, der AWO Streetwork und dem Fan-Projekt Dortmund e. V., das auch von der BVB-Stiftung „Leuchte auf“ unter­stützt wird. Es bietet Kindern und Jugendlichen aus dem Dortmunder Norden eine sinnvolle Freizeitbe­schäftigung. Die Straßenfußballliga, bei der Mädchen und Jungen kostenfrei in selbst organisierten Teams trainieren und gegeneinander antreten, ist in der von sozialen Problemen geprägten Nordstadt eine beliebte Anlaufstelle. Alljährlich lockt sie die sagenhafte Zahl von rund 4.000 Teilnehmenden auf die Fußballplätze.

Einer von ihnen: Mirza Demirović im Gespräch mit einer Spielerin der Nordstadtliga-Queens. Er ist allseits beliebt – bei Mädchen, Jungen und ihren Eltern.
Seine eigene Lebens­geschichte – geprägt von Flucht und Aufstiegs­kampf – macht den 48-jährigen Dortmunder nahbar für Mädchen und Jungen, die Ähnliches erlebt haben.

Eine Lebensgeschichte, die Vertrauen schafft

Für Demirović, den die meisten hier beim Vornamen rufen, ist die Leitung der Nordstadtliga nicht irgendein Job. „Es ist ein Way of Life, eine Einstellung“, sagt Mirza. Die Nord­stadt­liga hat er auf sein Bein tätowiert. Den Dortmunder Norden und seine Menschen kennt der zweifache Vater wie seine Westen­tasche, jahrelang war er hier als Streetworker unterwegs. Seit 2020 ko­ordinierte er die Nordstadt­liga ehrenamtlich, inzwischen ist die Leitung des Teamprojekts mit 65 Ehren­amt­lerinnen und Übungsleitern sein Beruf. Die Menschen in der Nord­stadt, von denen die meisten einen Migrations­hintergrund haben, vertrauen Mirza ihre Kinder nicht ohne Grund an. Er hat für alle ein offenes Ohr, begegnet den Men­schen auf Augenhöhe und sprüht nur so vor neuen Ideen. Es ist vor allem aber seine Lebensge­schich­te, die bei den Familien Vertrauen schafft. Denn es könnte die von einem der Kinder sein, die hier zum Fußballtraining auflaufen.

1994 flüchtet Mirza im Alter von 17 Jahr­en vor dem Bosnienkrieg nach Dortmund. Von Deutschland weiß er da noch nicht viel, nur den BVB, den kennt er schon seit Kindertagen. Der Bruder eines Onkels, der bereits in Dortmund lebte, hatte ihm Ende der 80er-Jahre einen Wimpel ge­schenkt, den er über das Bett in seinem Kinder­zimmer hängte. Er war es auch, der Mirzas Familie während des Krieges nach Deutschland einlud und ihr damit viel­leicht das Leben rettete.

Vom Glanz des großen Fußball­vereins trennen Mirza zu diesem Zeitpunkt je­doch noch Welten. Erst wollen die Be­hörden den einstigen Gymnasiasten nicht zur Schule gehen lassen. Nur über Umwege und mit der Hilfe einer Lehrerin kann er den Hauptschulabschluss nach­holen. Von einer Ausbildung als Energie­elektroniker erhofft er sich ein Bleibe­recht – vergeblich. Er verlässt auf Drän­gen der Behörden das Land, verbringt die nächsten neun Jahre alleine in Pitts­burgh­/USA, wo er studiert und sich mit Nebenjobs über Wasser hält. Als es ihn zurück zu seiner Familie nach Dortmund zieht, wartet die nächste Hürde: Sein interdisziplinäres Studium „Liberal Arts and Science“ wird nicht anerkannt. Also studiert Mirza kurzer­hand noch mal, angewandte Sozial­wissenschaften an der FH Dortmund.

Sich abgelehnt fühlen, scheitern, wieder aufstehen, weiterkämpfen – diese Erfahrungen haben Mirza geprägt. Sie helfen ihm bei seinem anspruchsvollen Job und im Umgang mit Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. „Vieles vom Negativen, das man selbst erlebt hat, in etwas Positives umwandeln“, so lautet Mirzas Motto. Mit seinem Verein Borussia Dort­mund arbeitet Mirza, der als Kind selbst leiden­schaft­lich gerne auf der Straße kickte, inzwischen intensiv zusammen. Er besucht mit den Kindern der Nordstadtliga Heim­spiele, für die der Verein immer Tickets reserviert. Sogar das BVB-Auswärtstrikot durften die jungen Kickerinnen und Kicker vorstellen. Und selbst das Fastenbrechen im Ramadan verlegen sie schon mal ins Stadion, verbunden mit einem Besuch im Lernzentrum.
Der Kunstrasenplatz zwischen Industrie­gebiet und Freden­baumpark – hier fühlt sich Mirza Demirović am richtigen Ort.
Trainiert wird im Fußballkäfig am Max-Michallek-Platz – aber auch im Nordstadt­liga-Stadion in der Burgholz­straße un­weit des Nordmarkts.

Überall steckt Bildung drin

Das Ausflugsziel, das Lernzentrum, ist kein Zufall. Denn Mirzas Ge­schichte erzählt auch vom Aufstieg eines ge­flüchteten Jugendlichen zum allseits respektierten Sozial­arbeiter. Der Weg dorthin führt über die Bildung, das haben ihm seine Eltern, die Akademiker sind, immer wieder eingeschärft. Und Mirza selbst ist das lebende Beispiel dafür, dass man trotz hoher Hürden alles schaffen kann. Deshalb integriert das Team der Nord­stadt­liga Bildung überall im Fußball-Alltag, wo es nur geht. Da­runter Selbstbe­hauptungs- oder Schwimmkurse für Mädchen, AGs für Sportjournalismus und Creative Writing an Schulen oder Hausaufgabenhilfe. Sogar Ver­treterinnen und Vertreter der EU kamen schon auf dem Sportplatz vorbei, um über Europa zu infor­mieren.

In der sich selbst organisierenden Liga lernen die Kinder ganz nebenbei Basis­demokratie und Eigenverant­wortung. Fähigkeiten, die sie ihr Leben lang brau­chen. „Die Angebote sind immer spiele­risch und nieder­schwellig, dabei ist Fußball nur Mittel zum Zweck. Wir platzieren Themen so, dass die Kinder sich damit auseinandersetzen und gleichzeitig Fußball spielen können“, erklärt Mirza.

Die Nordstadtliga, sie ist so viel mehr als Fußball. Teilhabe er­mög­lichen, Werte wie Fairness, Respekt und Team­geist vermitteln – das haben sich Mirza und sein Team auf die Fahnen ge­schrieben. „Ganz oft sehen wir in den Kindern unentdeckte Potenziale, die sonst nicht zum Vorschein kommen würden“, sagt Mirza.

Mit seinem Job hat sich Mirza einen Traum erfüllt. „Es war ein langer, harter Weg, aber jetzt arbeite ich hier bei der Nordstadtliga. Ich bin unendlich glücklich und dankbar dafür, dass ich durch meine Aufgabe jungen Menschen ein besseres Leben ermöglichen kann“, sagt Mirza. Manche der Jugendlichen, die er betreut hat, sind inzwischen er­wachsen. Eine Familie hat ihren Sohn Mirza genannt.

Borussia Dortmund unterstützt die Nordstadt­liga auf vielerlei Weise. Etwa durch das Fan-Projekt Dortmund e. V., das von der BVB-Stiftung „Leuchte auf“ unterstützt wird.
Respekt und Fairness, gegenseitige Hilfe: Fußball sei Mittel zum Zweck, so der Koor­dinator, um Kindern und Jugendlichen Werte zu vermitteln.
Gut gebrandet! Selbst das Megafon schreit frei heraus: Wir sind hier in der Nordstadtliga!
Liebe, die unter die Haut geht und für immer bleibt: Die Nordstadtliga ziert Mirza Demirovićs linken Unterschenkel.
Der gebürtige Bosnier an seinem Arbeits­platz, dem neuen Haupt­quartier der Nordstadtliga am Borsigplatz.

Tag

Eine Antwort

  1. Liebe Frau Barth-Modreker , tausend Dank für den lesenswerten Artikel über Mirza Demirović; er ist der Kopf, das Herz und die Seele der Nordstadtliga. „Ein Leben für die Liga“ – diese Überschrift trifft ins Schwarze. Herr Demirović lebt seine Berufung; die Kinder und Jugendlichen der Dortmunder Nordstadt bedeuten ihm alles. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern Ihres Artikels, dass auch sie etwas finden, dass sie ganz und gar erfüllt, um so ein Segen für die Welt zu werden. Manchmal hilft bei der Suche das Gebet … frei nach Dag Hammarskjöld, dem ehemaligen UN-Generalsekretär: „Bete, dass deine Einsamkeit der Stachel werde, etwas zu finden, wofür es sich lohnt zu leben – groß genug, um auch dafür zu sterben.“

    PS: Danke auch an Frau Loitzsch für die beeindruckenden Bilder; sie sagen mehr als tausend Worte!

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