Beziehungsarbeit

„Der Erziehungs­auftrag sollte zu einem Beziehungs­auftrag werden“

Warum sind gesunde Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern so wichtig für erfolgreiches Lernen, Lucia B. Amrhein?

Frau Amrhein, vor Ihrer wissen­schaftlichen Laufbahn waren Sie selbst Grund- und Sekundar­schullehrerin. Woran erinnern Sie sich aus dieser Zeit?

Lucia B. Amrhein: Ich habe damals erlebt, dass zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern viel Miss­verstehen herrscht in Bezug auf den Umgang mit Konflikten im Unterricht. Mich hat sehr beschäftigt, wie man hier mehr ins gegenseitige Verstehen kommen und dieses auch in Stress­situationen aufrechterhalten kann. So begann ich, intensiv in Konzepte der beruflichen Persönlichkeitsentwicklung einzutauchen. Das private, authentische Ich nicht strikt von der institutionellen Rolle, die man als Lehrkraft ausübt, zu trennen ist für mich eine Grund­voraussetzung für gelingende Beziehungen im Klassenraum.

Das Miteinander läuft oft nicht immer reibungslos ab. Gerade deshalb ist die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern so elementar wichtig. © Wübben Stiftung Bildung/Kaja Grope

Wie haben diese Erfahrungen Ihre Forschungsarbeit beeinflusst?

Amrhein: Sehr stark. Ich habe mich schon früh mit dem Thema Inklusion beschäftigt, sowohl praktisch als auch wissen­schaftlich, und habe über zehn Jahre hinweg auch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unter­stützungs­bedarf begleitet. In meinem Unterricht konnte ich die Teilhabebarrieren bei Lehr- und Lern­prozessen erfolgreich abbauen – im Schulalltag außer­halb unseres Klassen­raumes hingegen wurden sie häufig wieder hochgezogen. Wenn Vielfalt und Heterogenität nicht schulkulturell verankert sind, bleibt der Umgang damit häufig an einzelnen Lehrkräften hängen. So war es auch bei mir, und das war einer von vielen Gründen, warum ich in die Forschung gegangen bin. Es ist mir ein ganz wichtiges Anliegen, Inklusion und Diversität im Rahmen der Lehrkräfte­ausbildung fest zu verankern.

Sie erforschen neue Wege im Umgang mit als belastend wahrgenommenem Verhalten von Schülerinnen und Schülern. Welche Rolle spielt das Miteinander zwischen Lehrkraft und Schülerschaft dabei?

Amrhein: Eine ganz entscheidende! Der schulische Erziehungs­auftrag sollte meiner Ansicht nach zu einem Be­ziehungs­auftrag weiterentwickelt werden. Es ist davon auszugehen, dass vor allem Kinder, die in emotional unsicheren Umgebungen aufwachsen, unter den corona­bedingten Beziehungs­abbrüchen in institutionellen Kontexten wie der Schule ganz besonders belastet wurden. Dort kann Beziehungsarbeit überlebenswichtig sein.

Inwiefern?

Amrhein: Lehrkräfte stehen vor der Herausforderung, im stressigen Schul­alltag auch mit Kindern und Jugend­lichen in Beziehung zu treten, die sie vielleicht als „schwierig“ erleben. Dass sie aufgrund der erheblichen Belas­tungen im Schul­alltag jedoch eher auf Distanz gehen und die Ver­antwortung abgeben möchten, etwa an die Kolleginnen und Kollegen aus der Sonderpädagogik oder der Schul­sozial­arbeit, ist verständlich. Ein pro­fessioneller Umgang mit der Situation wäre aber, ver­stehen zu wollen, was hinter diesem als schwierig erlebten Verhalten steckt. Das herauszuarbeiten, um dann neue Handlungs­optionen auszuprobieren, sichert die Teilhabe der Kinder am Unterricht und damit am Bildungserfolg.

Vor allem für Kinder, die in emotional unsicheren Umgebungen auf­wachsen, könne Beziehungs­arbeit überlebenswichtig sein, sagt Lucia B. Amrhein. © Wübben Stiftung Bildung/Reinaldo Coddou

„Wenn Vielfalt und Heterogenität nicht schulkulturell ver­ankert sind, bleibt der Umgang damit häufig an einzelnen Lehr­kräften hängen. “

Wie können Lehrkräfte denn dabei unterstützt werden?

Amrhein: Etwa durch berufsbegleitende Qualifizierungsangebote, bei denen sie schnell merken, dass sie ihren Berufs­alltag erleichtern. Wir haben mit Umbraise eine berufs­begleitende Qualifizierung beziehungsweise eine Unterstützungs­struktur entwickelt, die pädagogisches Personal an Schulen aller Schulformen genau darin unter­stützt, hinter dem belastenden Verhalten Sinn zu erkennen. Wir zeigen Kolleginnen und Kollegen wissen­schafts­basiert und ganz praxis­orientiert, wie sie wieder zu Handlungs­macht im Unterricht kommen, ganz ohne Ausschluss oder Beschämung im Unterricht. Wir nennen das auch „den Raum emotional sicher machen“ – für alle Beteiligten, auch für die Lehrkräfte. Umbraise wird bereits seit einiger Zeit deutschlandweit umgesetzt und ab dem neuen Schuljahr 2025/2026 auch an Startchancen-Schulen in NRW.

Gibt es neben Fortbildungen etwas, womit jede Lehrkraft sofort beginnen kann?

Amrhein: Ein Anfang ist immer, zunächst ganz selbstkritisch, aber auch achtsam zu reflektieren, warum man als Lehr­kraft mit der Beziehungsarbeit im Unterricht möglicher­weise nicht erfolgreich ist. Was könnte hier die eigene Verwicklung oder der eigene Anteil sein? Ich kann mich mit der Geschichte zufriedengeben, dass ich es dreimal versucht habe, der Schüler oder die Schülerin aber einfach keine Lust hat, sich auf das An­gebot ein­zulassen oder er oder sie eben schwierig beziehungs­weise auffällig ist. Oder ich gehe über meine Erfahrungsebene hinaus und erarbeite am besten im Team eine Hypothese, die auf Theorie und Empirie basiert und die mir dann ganz neue Handlungsoptionen bietet. Das hört sich nach Zusatzarbeit an, muss es aber nicht sein. Genau darin unterstützen wir mit dem Transferprogramm Umbraise.

Lucia B. Amrhein: „Schule muss zu einem emotional sicheren Ort wer­den, wenn Lehr- und Lernprozesse ge­lingen sollen.“ Wie das funk­tioniert, lernen Lehrkräfte beim Umbraise-Programm.

© Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Was steckt hinter als schwierig erlebtem Verhalten? Das zu ergründen sichere die Teilhabe der Kinder am Unterricht und damit am Bildungserfolg, so Amrhein. © Wübben Stiftung Bildung/Reinaldo Coddou

Welche wissenschaftlichen Ansätze können dabei helfen?

Amrhein: Hier wäre so vieles zu nennen. Daher in diesem Rahmen nur wenige Hinweise: Der Bildungsforscher John Hattie etwa hat in seinem um­fassenden Buch „Visible Learning“ gezeigt, wie wichtig es ist, dass Lehrkräfte ihren Unterricht mit den Augen ihrer Schüler­innen und Schüler sehen. Auch die Ansätze der emo­tionalen Intelligenz nach Daniel Goleman sowie das Konzept des Mentali­sierens können viel verändern. Dabei geht es unter anderem darum, sich eigener Gefühle und Gedanken in Stress­situationen bewusst zu werden und sich gleichzeitig in die Lage des Gegenübers einzufühlen und darauf zu reagieren. Dabei ist das Mentalisieren nichts Zusätzliches: Wir alle bringen das schon mit – mal mehr, mal weniger ausgeprägt.

Was wird dadurch möglich?

Amrhein: Die Lehrkraft merkt, dass die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern viel mit der Beziehung zu sich selbst zu tun hat. Für ein gutes Verhältnis ist es entscheidend, per­sönliche Trigger­punkte und Glaubens­sätze zu kennen, auch um eigene emotionale Ver­wicklungen in Konflikten aufzudecken. Viele Kolleginnen und Kollegen befinden sich im Unterricht häufig in einer Art Fight-Flight-Modus, merken dies jedoch nicht. Hält dieser Zustand länger an, kann das sehr ungesund sein für das eigene mentale, aber auch das körperliche Wohlbefinden im Berufsalltag.

Fight-Flight-Modus – was bedeutet das?

Amrhein: Lehrkräfte versuchen dann, das unerwünschte Verhalten der Schülerinnen oder Schüler durch Sanktionen oder Strafen abzustellen (Punishment-Ansatz). Aus der insti­tutionellen Logik heraus – „Mein Auftrag ist es, Unterricht durchzuführen“ – ist das sicher verständlich, pädagogisch aber häufig absolut kontraproduktiv. Denn wenn ich Schüler­innen und Schülern permanent damit drohe, ihr Verhalten zu sanktionieren, gehe ich aus der Beziehung zu dem Kind heraus. Dann springt gerade bei Kindern und Jugendlichen mit Bindungsthemen das Angstsystem an (Amygdala-Hijack). Laut dem Psycho­therapie­forscher Klaus Grawe ist Bindung jedoch ein psychisches Grundbedürfnis. Wir alle wollen dazu­gehören. Kommt es zu Konflikten oder Störungen, hat es zuvor meist auf der Be­ziehungs­­ebene eine Verletzung gegeben. Deshalb ist es auch so wichtig, diese Beziehungs­ebene zu bearbeiten und nicht das Symptom beziehungsweise die Störung.

„Schule muss zu einem emotional sicheren Ort werden, wenn Lehr- und Lernprozesse gelingen sollen.“

Worin liegt die größte Chance guter Beziehungsarbeit?

Amrhein: Schule muss zu einem emotional sicheren Ort werden, wenn Lehr- und Lern­prozesse gelingen sollen. Die Lehrkräfte im Umbraise-Programm lernen zum Beispiel, ein bedingungs­loses Beziehungsangebot aufrecht­zuerhalten. Die Kinder müssen sich nicht die ganze Zeit beweisen, um dazuzugehören. Niemand muss Angst haben, beschämt zu werden. All das ist die Grundlage für stabile Beziehungen und für erfolgreiches Lernen. Das be­deutet allerdings nicht, dass es im schulischen Alltag keine Regeln mehr gibt. Diese müssen jedoch sinnvoll sein und mit den Schülerinnen und Schülern immer wieder überarbeitet werden.

Prof. Dr. Lucia B. Amrhein leitet den Lehrstuhl „Inklusive Päda­gogik und Diversität“ an der Uni­versität Duisburg-Essen und hat das Institut Chancen­recht am Rhein gegründet (Institut für wissen­schafts­basierte und praxis­orientierte Professionalisierung und Beratung im Bildungs­wesen). Die Professorin erforscht neue Wege im schulischen Umgang mit belastendem Verhalten und emotionalen und sozialen Unterstützungs­­­­bedarfen von Schülerinnen und Schülern. Mit dem von ihr und ihrem Team ent­wickelten Quali­fizierungs­programm Umbraise unterstützt sie päda­gogisches Personal und Schulen aller Schulformen, Konflikte in Bezug auf belastendes Ver­halten nachhaltig und stärker beziehungsorientiert anzugehen.

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