Mitbestimmung

Nicht gehört, nicht gesehen?

Wie steht es in Deutschland um Bildungschancen und Mitspracherechte von Kindern und Jugendlichen? Der Teilhabeatlas liefert Ergebnisse, die nachdenklich stimmen.

Bildungsangebote, Freizeit­möglichkeiten, Selbst­bestimmung und Beteiligung: All das sind gesell­schaftliche Bereiche, die dem Gros der Erwachsenen in Deutschland wichtig sind. Doch welche Rolle spielen sie für Kinder und Jugendliche? Wie empfinden sie ihre Teilhabemöglichkeiten? Und wie viel Mitbestimmung ist ihnen tatsächlich im Alltag oder in der Politik möglich? Das alles beantwortet der aktuelle „Teilhabeatlas Kinder und Jugendliche“, herausgegeben von der Wüstenrot Stiftung, dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und der Deutschen Kinder- und Jugend­stiftung. Die Studie gibt Aufschluss darüber, wie junge Menschen ihr Mitwirken in unserer Gesellschaft wahrnehmen und wo sie sich mehr Mitbestimmung wünschen. Dabei geht es natürlich auch um den schulischen Alltag. Inwiefern Kinder und Jugendliche sich hier einbringen können und wie mit ihren Vorschlägen in der Schule umgegangen wird – das und mehr im Überblick.
Der „Teilhabeatlas Kinder und Jugendliche“ betrachtet auch die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen im Schulalltag. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Alexander Scheuber

Die wichtigsten Ergebnisse des Teilhabeatlas

Die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe hängen für Kinder und Jugendliche stark mit einer erfolg­reichen Schul­laufbahn zusammen. Diese ist in Deutschland, so der Bildungs­soziologe Aladin El-Mafaalani, nach wie vor sehr stark vom Einkommen und Bildungsstand der Eltern abhängig. Ein Blick auf die Verteilung von Kinderarmut in unserem Land zeigt eine weit geöffnete Schere. Im Ruhrgebiet liegt sie in manchen Städten bei um die 30 Prozent. In den ökonomisch starken Regionen Süddeutschlands sind hingegen weniger als vier Prozent der Kinder von Armut betroffen.
Rund 50.000 Jugendliche gehen jährlich ohne Abschluss von der Schule. Für sie sinkt damit oft die Chance auf gesellschaftliche und ökonomische Teilhabe im Erwachsenenalter. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Reinaldo Coddou
Beim Faktor Schulabschluss zeigt sich ein ähnliches Bild: Rund 50.000 Jugendliche gehen jährlich ohne Abschluss von der Schule. Dabei gibt es große regionale Unter­schiede. Im Jahr 2022 verließen im Kreis Stendal in Sachsen-Anhalt 15 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Im bayerischen Miesbach oder in Heidelberg (Baden-Württemberg) waren es unter drei Prozent. Für die Schul­abgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss im äußersten Norden und in den ost­deutschen Bundesländern sinkt so auch die Chance auf einen Aus­bildungs­platz und damit auf gesellschaftliche und ökonomische Teilhabe im Erwachsenen­alter. Gleiche Teilhabechancen in Deutschland? Im Bereich Bildung immer noch Fehlanzeige.

Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen in der Schule

Bei den Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen (siehe Infokasten zum Teilhabeatlas) waren die Mit­bestimmungs­möglichkeiten in ihren Schulen und den Schulen von Freundinnen und Freunden ein zentrales Thema. Nach der Auswertung der subjektiven Aussagen dominiert bei den Autorinnen und Autoren des Teilhabeatlas der Eindruck, dass die Schülerinnen und Schüler zwar eine Reihe guter Ideen zur Gestaltung des Schulhofs, der Toiletten, für Unterrichts­inhalte oder zum Thema Handynutzung haben, sie ihre konkreten Teilhabeoptionen aber eher negativ bewerten. Sie kritisieren, dass …

  • sie als Jugendliche oft nicht gehört und ernst genommen werden. 
  • Erwachsene nicht so gerne wollen, dass junge Menschen sich einbringen. 
  • sie keinen offiziellen Beschwerdeweg wüssten, um ein Mitspracherecht einzufordern. 
  • sie viele Vorschläge machen, aber nichts passiert. 
  • es an Gymnasien oft bessere Beteiligungsmöglichkeiten gibt. 
  •  

Einige Schülerinnen und Schüler berichteten aber auch von positiven Teilhabeerlebnissen in der Schule: etwa wenn sie das Ziel ihrer Studienfahrt bestimmen durften, das Schulgebäude mitgestalten konnten oder sich eine Lehrkraft oder die Schulleitung besonders dafür ein­gesetzt hat, dass Mitbestimmung ermöglicht wurde. Zum Beispiel beim Aufbau eines Schülerparlaments oder der Themenwahl für Projektwochen.

Von der Art und Weise, wie Demokratie und politische Bildung im Unterricht vermittelt werden, fühlen sich die Befragten teilweise nicht richtig abgeholt. Welt- und Deutschlandpolitik ist ihnen zu weit weg. Sie vermissen einen Bezug zu ihrer persönlichen Lebenswelt. Das wünschen sich die Schülerinnen und Schüler im Politikunterricht:

  • Politik behandeln, die einen direkt umgibt und betrifft.
  • etwas über Kommunalpolitik lernen.
  • mehr über die aktuelle Lage und Themen in Deutschland erfahren.
Kinder und Jugendliche haben viele Ideen, auch die Unterrichtsgestaltung betreffend. Sie fühlen sich aber laut der Studie oft nicht gesehen oder gehört. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Katharina Werle

Teilhabe: Wo ist Luft nach oben?

Für die Schulen

Mitbestimmung ist ein Lernprozess aufseiten der Schülerinnen und Schüler, aber ebenfalls aufseiten der Beschäftigten der Schule. Heißt: Teilhabe muss ermöglicht, allerdings auch angeleitet werden – durch mehr Demokratiebildung ebenso wie durch passende Beteiligungsformate. Für Kinder und Jugendliche, für die stark formalisierte Mit­bestimmungs­­varianten wie Schülervertretung oder Jugendparlamente eine zu große Hürde darstellen, könnten den Handlungs­empfehlungen des Teilhabeatlas zufolge niedrig­schwelligere Formate wie Ideenwerkstätten oder Projekte den Weg zu mehr Teilhabe ebnen.

Für die Erwachsenen

Kinder und Jugendliche sind in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe von Erwachsenen abhängig. Es ist daher die Verantwortung von Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Politikerinnen und Politikern, jungen Menschen zuzuhören, wenn es darum geht, was sie sich in der Schule und darum herum wünschen und was sie gerne verändern wollen. Wer als Kind und Jugendlicher die Erfahrung gemacht hat, ernst genommen zu werden und mitmachen zu dürfen, wird auch als erwachsener Mensch Mut zum Gestalten haben.

Für die Politik

Junge Menschen haben einen Anspruch auf einen Zugang zu den Möglichkeiten unserer Gesellschaft. Gute Teilhabe muss eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe werden. Sie darf nicht vom Einkommen der Eltern, dem Wohnort oder dem Enga­gement einzelner Personen abhängen. Vielmehr muss strukturell in die Bildungs­qualität investiert werden – datenbasiert und unter Berücksichtigung regionaler Prioritäten.

Mitgestalten, mitentscheiden: Die Schule sollte ein Ort sein, an dem junge Men­schen die Er­fahrung machen, ernst genommen zu werden. Foto:
© Wübben Stiftung Bildung/Lukas Schulze

Teilhabe muss ermöglicht, aber auch durch Erwachsene angeleitet werden – durch mehr Demokratiebildung, aber auch durch passende Beteiligungsformate. Foto:
© Wübben Stiftung Bildung/Alexander Scheuber

Foto: © Claudia Härterich
Claudia Härterich ist seit 2024 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Ihr Themen­schwerpunkt ist der demografische Wandel. Außerdem forscht die Politikwissenschaftlerin zu kommunalen Nachhaltig­keits­initiativen und -netzwerken und nach­haltiger Entwicklung. Sie ist Mitautorin des „Teilhabeatlas Kinder und Jugendliche“, den das Berlin-Institut gemein­sam mit der Wüstenrot Stiftung und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung herausgegeben hat.

Was ist der Teilhabeatlas?

Für den Teilhabeatlas wurden die 400 deutschen Kreise und kreisfreien Städte zu acht Clustern zusammen­gefasst, die sich anhand der strukturellen Rahmenbedingungen für Teilhabe von Kindern und Jugendlichen unterscheiden.

Dimensionen und Indikatoren, die berücksichtigt wurden:

  • Wirtschaft (Kinderarmut, Ausbildungsplatzangebot, Jugendarbeitslosigkeit)
  • Bildung (Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Schulabschluss, Betreuungsquote von Vorschulkindern)
  • Demografie (Lebenserwartung, Anteil junger Menschen in der Bevölkerung)
  • Infrastruktur (Erreichbarkeit von Bushaltestellen, Schulen und Kinderarztpraxen, Breitbandversorgung)

Teilhabe lässt sich aber nicht nur aus statistischen Daten ableiten. Ebenso wichtig ist, wie die Kinder und Jugendlichen Teilhabe­optionen und Hindernisse selbst einschätzen. Ein Team aus Forscherinnen und Forschern des Berlin-Instituts, der Wüstenrot Stiftung und der Deutschen Kinder- und Jugend­stiftung befragte daher exemplar­isch Kinder und Jugendliche aus acht Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und erforschte mit ihnen gemeinsam ihr Umfeld. Die Interviewten waren Vertreterinnen und Vertreter von Jugend­parlamenten und -beiräten sowie Besucherinnen und Besucher von Jugendtreffs. Gespräche mit Lehrkräften, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie Mitarbeiter­innen und Mitarbeitern in Jugendämtern rundeten das Bild ab.

Hier geht es zu den Zahlen:

Wie sehen die Teilhabechancen in Ihrem Wohnort aus? Auf teilhabeatlas.org können Sie mithilfe eines interaktiven Datenexplorers in die regionalen Details eintauchen.

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