Bildungsgerechtigkeit

Lernen ist ein Grundrecht

Gleiche Bildungschancen für alle – das fordert das Netzwerk Bildungsgerechtigkeit Dresden. Doch wie kommt man von der Idee ins Handeln? Tipps von Schulleiterin Anna-Maria Feig.

In größeren Städten wie Dresden zeugt häufig allein die Adresse davon, welchen Bildungsabschluss eine Person hat. So zeigt der Dritte Dresdner Bildungsbericht, dass der Anteil der Einwohnerinnen und Einwohner mit Hauptschulabschluss in bestimmten Stadtteilen dreimal so hoch ist wie in anderen. In Großzschachwitz oder Leuben wohnen beispielsweise überdurchschnittlich viele Menschen, die maximal die Berufsbildungsreife besitzen – ganz anders als etwa in der Äußeren Neustadt. Dieselbe Studie attestiert auch: Bewohnerinnen und Bewohner mit Migrationshintergrund haben dreimal häufiger keine Berufsausbildung als deutschstämmige Dresdnerinnen und Dresdner. Ein unfairer und untragbarer Zustand, findet das Netzwerk Bildungsgerechtigkeit Dresden. Das 2021 von Grundschulleiterinnen und -leitern gegründete Netzwerk  setzt sich für mehr Bildungsgerechtigkeit in der sächsischen Landeshauptstadt ein. Den Anstoß zur Gründung des Netzwerks gab ein runder Tisch „Bildungsgerechtigkeit“, den die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Sachsen 2021 veranstaltete. Die dort besprochenen Vorhaben der Teilnehmenden aus der Dresdner Bildungslandschaft finden sich seither auch in den Positionen und Zielen des Netzwerks wieder.

Chance auf Bildung – Spaß an Bildung: Laut dem Netzwerk Bildungsgerechtigkeit wird dieses Angebot längst nicht allen Kindern zuteil.
Anna-Maria Feig engagiert sich ehrenamtlich im Netzwerk Bildungsgerechtigkeit Dresden.

Verhinderte Chancen

Das Netzwerk stützt sich dabei auf den ersten Paragrafen des Sächsischen Schulgesetzes: Er besagt, dass jede und jeder das Recht auf Erziehung und Bildung hat – entsprechend den eigenen Fähigkeiten und ohne Rücksicht auf Herkunft und wirtschaftliche Lage. Umgesetzt sehen die Netzwerkmitglieder dieses Recht allerdings nicht. Zu stark seien die Bildungschancen eines Kindes beispielsweise vom Schulabschluss der Eltern, von deren Sprachkompetenzen oder ihrer Erwerbssituation abhängig. „Wer seinen Eltern beim Ausfüllen von Formularen helfen muss, statt von ihnen Hilfe bei den Deutschaufgaben zu bekommen, wer zu Hause keine Ruhe zum Lernen findet, hungrig in der Schule sitzt oder nicht weiß, wie Konflikte friedlich gelöst werden können, hat schlechtere Chancen, schulische Erfolge zu erreichen“, macht das Netzwerk in seinem Positionspapier deutlich.

Eine, die sich im Netzwerk freiwillig engagiert, ist Anna-Maria Feig, Schulleiterin der 117. Grundschule „Ludwig Reichenbach“ in Dresden. Sie erinnert sich noch gut an die Anfänge, als das Team zunächst Literatur und relevante Studien zum Thema Bildungsgerechtigkeit recherchiert hat. „Wir suchten nach wissenschaftlichen Belegen für die subjektiven Erfahrungen, die Schulleitungen wie Lehrkräfte an ihren eigenen Schulen machten“, so Feig. „Wir wollten nicht, dass es bei Einzelbemühungen bleibt, sondern wissenschaftlich fundierte Forderungen stellen und übergreifende Anliegen zum Thema Bildungsgerechtigkeit in den Schulen platzieren.“

Ungleiches ungleich behandeln

Doch wie kann aus der Theorie Praxis werden? Dazu veröffentlichte das Netzwerk ein Positionspapier mit drei Kernforderungen. Es gilt heute als Gesprächsgrundlage für den Austausch mit Entscheiderinnen und Entscheidern in Politik und Behörden. Der Inhalt:

  • Die Mitglieder fordern zum einen eine sozialindexbasierte Ressourcensteuerung, denn „Ungleiches muss ungleich behandelt werden“ – so heißt es im Positionspapier. Dort, wo es an Unterstützung durchs Elternhaus fehlt, muss kompensiert werden. Dazu gehören für das Netzwerk beispielsweise die Sprachförderung der Kinder ab der Vorschule, kleinere Lerngruppen, Beziehungsarbeit oder qualifiziertes Personal.
  • Zum anderen sehen die Schulleitungen die Notwendigkeit, dass Schulen im Brennpunkt bei der Entwicklung von Schul- und Unterrichtsstrategien unterstützt werden müssen. Das ginge vor allem durch Weiterbildung von Lehrkräften, Schulleitungen oder pädagogischen Fachkräften.
  • Außerdem verlangt das Netzwerk Bildungsgerechtigkeit mehr Mitbestimmung. Und zwar bei Entscheidungen, die verantwortungstragende Institutionen treffen. Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Praxis müssen enger miteinander verzahnt werden – Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger müssen auf das hören, was Menschen aus der Praxis berichten, und Erfahrungen von Lehrkräften und Eltern ernst nehmen.
Jede und jeder hat das Recht auf Erziehung und Bildung - so steht es im ersten Paragrafen des Sächsischen Schulgesetzes.

„Alle möchten mit uns zusammenarbeiten, das freut uns sehr“, zieht Schulleiterin Feig ein positives Zwischenfazit. Mit einer eigenen Website  und Netzwerktreffen, die mehrmals im Monat stattfinden, machen die 15 Mitglieder weiter auf sich aufmerksam. Beim kommenden Event, einem runden Tisch, wird das Netzwerk die eigenen Zielsetzungen Vertreterinnen und Vertretern der Regional- und Landespolitik vorstellen. Ein wichtiger Schritt, findet Feig. Daneben seien der Erfahrungsaustausch unter den mitwirkenden Schulleitungen und die emotionale Unterstützung in Problemsituationen wichtiger Teil der gemeinsamen Arbeit, betont sie.

„Wir verlieren die Kinder innerhalb ihrer Bildungs­biografie.“

„Guckt mal, hier geht noch was“

Die Folgen von ungerecht verteilter Bildung seien nicht nur für die Kinder selbst, sondern auch für die gesamte Gesellschaft verheerend, erklärt die Netzwerkerin. „Wir verlieren die Kinder innerhalb ihrer Bildungsbiografie“, beklagt Feig. „Dabei könnten wir noch viel mehr tun, um die Kinder zu demokratischen und selbstbestimmten Menschen zu machen.“ Gerade wegen der gegenwärtigen Schieflage im Bildungssystem setzt sich die Schulleiterin innerhalb des Netzwerks weiter für Bildungsgerechtigkeit in Dresden ein. „Für mich persönlich ist es eine große Motivation, weiterzumachen und immer wieder aufzuzeigen: Guckt mal, hier geht noch was, hier können wir noch was tun!“

Gemeinsam für mehr Bildungsgerechtigkeit in Dresden: Schulleiterin Anna-Maria Feig und ihre Stellvertreterin Pauline Brun.

Tipps von Anna-Maria Feig: So gelingt Netzwerkarbeit

Das A und O: Die Vernetzung

01

Neue Ideen teile ich mit so vielen Menschen wie möglich und versuche die Resonanz zu erfühlen. Wenn ich genügend viele Menschen begeistern kann, ist irgendwann eine kritische Masse erreicht und ausreichend Energie für die Umsetzung entstanden. Dann kann es losgehen!

Das Umfeld als Verbündete nutzen

02

Ich sehe alle Menschen in meinem Arbeitsumfeld als Verbündete. Jede und jeder trägt mit der eigenen Perspektive, den eigenen speziellen Fähigkeiten und der eigenen Persönlichkeit zur Entstehung der schulischen Kultur und Entwicklung bei. Konträre Meinungen und kontroverse Diskussionen sind wichtig, um die Sicht auf ein Thema zu schärfen.

 

Vorteile eines organisierten Netzwerks

03

Wir profitieren von der Netzwerkarbeit auf mehreren Ebenen: Die emotionale und kognitive Stärke aller Mitarbeitenden wird gebündelt. Aufgaben verteilen sich auf mehrere Schultern, und je nach individueller Stärke übernehmen die Teammitglieder verschiedene Rollen und Verantwortlichkeiten. Wir gehen nicht mit Einzelanliegen an den Start, sondern erarbeiten eine übergeordnete Idee, mit der wir uns gemeinsam Gehör verschaffen.

Entscheiderinnen und Entscheider erreichen

04

Der Austausch mit Politik und Verwaltung muss von den Schulen ausgehen. Schulleitungen sollten versuchen, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Verwaltung aufzubauen, Kompromisse und Lösungsideen austauschen. Sie sollten sich in Arbeitsgruppen organisieren und ihre Visionen kommunizieren. Als Netzwerk können wir Politikerinnen und Politiker direkt kontaktieren, zuvor hat das der Elternrat meiner Schule übernommen und so einen Fuß in die Tür bekommen. Es lohnt sich, immer ein Auge auf mediale und gesellschaftspolitische Themen zu haben, um günstige Momente für die Kommunikation zu wählen.

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