Schulentwicklung

Keine Schule im Gleichschritt

Individuelles Lerntempo, gezielte Förderung, mehr Eigenverantwortung. Wie eine Gesamt­schule in Hessen der zunehmenden Hetero­genität ihrer Schülerschaft begegnete.

Alle lernen dasselbe zur selben Zeit: Dass diese klassische Form des Unter­richtens für ihre Schule nicht geeignet ist, wussten die Leitung und das Kolle­gium der Martin-Niemöller-Schule schon seit Langem. Die Schule im südhessi­schen Riedstadt ist eine Integrierte Ge­samtschule ohne Ober­stufe. Die 1.000 Schülerinnen und Schüler sind sowohl hinsicht­lich ihrer kognitiven Leistungs­fähigkeit als auch bezüglich ihrer per­sönlichen und sozialen Voraussetz­ungen sehr hete­rogen. In den Haupt­fächern sowie in einigen anderen Fächern wurden sie deshalb in zwei Gruppen eingeteilt: Es gab Erweite­rungskurse für leistungs­stärkere Kinder und Grundkurse für die leistungs­schwächeren. Doch spätes­tens mit der Pandemie, als die Kinder und Jugend­lichen nach monatelangen Lockdowns in die Schule zurückkamen, wurde Martin Buhl und seinem Team klar: Das reicht nicht mehr. „Die zwei­fache Diffe­renzierung hat die Realität, die wir in unserer Schule haben, einfach nicht mehr abgebildet“, sagt der Schulleiter.

Eine weitere Erkenntnis: Das Problem liegt tiefer als mangelhafte Sprach­kenntnisse oder Schwierigkeiten mit Mathe­matik. „Wir beobachten zuneh­mend, dass vielen Schülerinnen und Schülern grundlegende Kompetenzen fehlen, um erfolgreich ins Lernen zu kommen“, erzählt Buhl. Wichtige Voraussetzungen wie Selbstorgani­sation, Verantwortungs­bewusst­sein, aber auch Zutrauen in das eigene Können seien oft nicht ausreichend ausgebildet.

Im Lernraum wird gefördert und gefordert

Um dieser zweifachen Herausforderung zu begegnen, entwickelten Schul­leitung und Steuergruppe ein neues Unter­richts­konzept: den Lernraum. Es sieht vor, dass für alle Jahrgänge täglich eine feste Unterrichtsstunde auf einem gemein­samen Zeitband liegt. Diese „Lernraum­stunde“ untergliedert sich in den indi­viduellen Lernraum und den fachlichen Lernraum.

Im individuellen Lernraum bleiben die Schülerinnen und Schüler in ihrem Klas­senraum und bearbeiten in eigener Ver­antwortung Aufgaben, die auf ihren Lern­stand abge­stimmt sind. Im fach­lichen Lernraum erhalten sie Förder­unterricht in Bereichen, in denen sie Rückstände auf­weisen – von Mathe­matik und Deutsch bis hin zu über­fachlichen Kompetenzen wie Motorik, Konzentration und Arbeitsstra­tegien. Auch Förderkurse für leistungs­stär­kere Schülerinnen und Schüler wie etwa „English conversation“ gehören nun zum Angebot.

Um die heterogene Schülerschaft besser fördern zu können, entwickelte die Martin-Niemöller-Schule das Lernraum-Konzept.
Im individuellen Lernraum bearbeiten die Schüle­rinnen und Schüler eigenständig Aufgaben. Im fachlichen Lernraum erhalten sie Förderunterricht.

So die Idee, die im Frühjahr 2020 an der Martin-Niemöller-Schule entstand. Be­reits im Au­gust desselben Jahres be­gann die Pilotphase in Klassenstufe 5, in den folgenden Jahren wurde der Lernraum Stück für Stück auf die wei­teren Jahrgänge ausgeweitet. Und am Ende vom Schuljahr 2023/2024 be­schloss die Gesamtkonferenz mit einer Zweidrittel­mehrheit die dauerhafte Einführung des Konzepts. Eine Erfolgsgeschichte.

Newsletter

Immer auf dem Laufenden bleiben!

Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit den besten Geschichten.


Was braucht es, um erfolgreich lernen zu können? Martin Buhl sieht nicht nur zu, sondern handelt. Und entwickelt seine Schule so ganz im Sinne seiner Schülerschaft weiter.

Ausprobieren, optimieren – ein Kraftakt

Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Zum einen, weil das Konzept immer wieder an­gepasst wurde. Wie viele Stunden sollen die Schülerinnen und Schüler im Lern­raum verbringen? Wie müssen Aufgaben gestal­tet sein, damit die Kinder motiviert und eigenständig daran arbei­ten können? Wie stellen wir Transparenz her, sodass alle Betei­ligten wissen, wann was zu tun ist? Diese und viele weitere Aspekte wurden im Laufe der Jahre diskutiert, ausprobiert, optimiert. In ständiger Abstimmung mit allen Beteiligten.

Vor allem im Kollegium habe es zu­nächst Widerstände gegeben, so Buhl. Zu plötzlich kam die Veränderung, zu groß war die Un­sicherheit – und zu fremd der Gedanke, Fachinhalte vom lehrerge­steuerten Un­terricht in ein of­fenes Lernkonzept zu ver­lagern. Auch deshalb erfolgte die Ein­­führung Schritt für Schritt. Und auch deshalb war Martin Buhl froh, dass die Einführung des Lernraums mit der Teilnahme seiner Schule an der „Schule macht stark“-Initiative (SchuMaS) zusammen­fiel.

„SchuMaS“, ein Vorläufer des Start­chancen-Programms, war eine gemein­same Initiative der Länder und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Die Idee: Wissen­schaft und Schulen arbeiten Hand in Hand an Strategien und Konzepten für Schulen in sozial schwierigen Lagen. Als die Martin-Niemöller-Schule im Februar 2021 die Zusage für die Teil­nahme an dem Pro­gramm erhielt, war das Lernraum-Projekt bereits gestar­tet. „Das war ein Glücksfall“, sagt Martin Buhl heute. „Denn alle Unter­stützungs­maßnahmen von SchuMaS haben uns extrem bei unserem Prozess geholfen.“

„Alle Unterstützungs-maßnahmen von SchuMaS haben uns extrem bei unserem Prozess geholfen.“

Von den Erfahrungen anderer lernen

So sei der Austausch mit anderen Schul­leitungen sehr wertvoll gewesen, erzählt Buhl. Von den Rückmeldungen und Erfah­rungen anderer habe er viel gelernt und so den ein oder anderen Fehler vermeiden können. Mindestens ebenso wichtig war für ihn die inten­sive Beschäftigung mit dem design­basierten Schulentwicklungs­ansatz, bei dem Schulen für komplexe Pro­bleme mit aktiven Metho­den des Aus­probierens und des ständigen Verbes­serns eigene Lösungen entwickeln. Auch profi­tierte Buhl enorm von der Begleitung durch Mitarbeitende des regionalen SchuMaS-Zentrums. All dies habe ihm und seinen Kolleg­innen und Kollegen geholfen, den Prozess in der eigenen Schule zu steuern – und so partizipativ wie möglich zu gestalten.

Inzwischen ist die Lehrerschaft der Martin-Niemöller-Schule überwiegend pro Lernraum. Und das eine Drittel, das 2024 noch dagegenstimmte? „Das ist keine Funda­mental-Opposition“, erklärt Buhl. Im Alltag hätten sich alle auf das neue Modell eingelassen.

Durch die Teilnahme an der „Schule macht stark“-Initiative (SchuMaS) waren Inspiration, Hilfe und Austausch gesichert. So gelang die Einführung des Lernraum-Konzepts besonders gut.
Bei aller Euphorie: Wer auf dem Schul­hof nachfragt, hört nicht nur positive Stimmen von den Schülerinnen und Schülern. Manche sagen, sie hätten im individuellen Lernraum zu wenig Zeit, um alles zu schaffen. Die Lehrerinnen und Lehrer würden ihnen zu viele Auf­gaben geben. Doch bedenkt man, welche Ziele die Schulleitung erreichen wollte – nämlich ein individuelles Lerntempo zu gewährleisten und die Eigenverantwortung zu fördern –, dann scheint der Plan für die mei­sten Kinder aufgegangen zu sein. „Ich habe im Lernraum gelernt, mich selbst zu orga­nisieren. Das klappt immer besser“, erzählt die zwölfjährige Valentina. Auch die gleichaltrige Anna ist zufrieden: „Ich finde es gut, dass ich selbst entschei­den kann, was ich wann mache. Das hilft mir beim Lernen.“ Schule im Gleich­schritt? An der Martin-Niemöller-Schule sind diese Zeiten vorbei.
Der Schulleiter steht im engen Austausch mit seinen Schüle­rinnen und Schülern. Die meisten von ihnen kommen mit der Art des Lernens an ihrer Schule sehr gut zurecht.
Anna (links) und Valentina – aufge­schlossen und engagiert – können sich nach eigenen Aussagen inzwischen gut selbst organisieren und ihr Lernen einteilen.

„SchuMas“-Sammelband und Praxisband

Zum Abschluss von „Schule macht stark“ (SchuMas) veröffentlichte die Initiative einen Sammelband mit zentralen Erkenntnissen für Schulen im Brennpunkt. Wie können Schulen in benachteiligten Lagen gestärkt werden? Wie können tragfähige Partnerschaf­ten zwischen Wissenschaft, Schulpraxis und Bildungs­administration entstehen? Das sind zwei von vielen Frage­stellungen, mit denen sich die zahlreichen Autorinnen und Autoren der 460 Seiten um­fassenden Publikation befassen. Schulleiter Martin Buhl gibt hier in dem Beitrag „Das datengestützte Reflexions­gespräch als Schlüssel­moment für Schulentwicklungs­beratung“, seine Erfahrungen und Perspektive wieder, zu finden ab Seite 161.

Daneben ist auch ein Praxisband erschienen. Dort gewähren mehr als 45 Schulen Einblicke in ihre Entwicklungsprozesse im Rahmen der SchuMas-Initiative. Ab Seite 79 findet sich auch hier ein Bei­trag von Schulleiter Martin Buhl, in dem er vertieft auf das Lern­raumkonzept eingeht. Der Titel: „Auf dem Weg zu offenen Lern­konzepten: die Etablierung des Lernraums an der Martin-Niemöller-Schule“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


… im Postfach

Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit den besten Geschichten.

[sibwp_form id=1]

Das könnte Sie auch interessieren:

Bitte beachte unsere Netiquette.

Auf SchuB möchten wir den fachlichen Austausch der Schulen im Brennpunkt untereinander fördern. Daher freuen wir uns sehr über Eure Meinung zu unseren Beiträgen. Für einen respektvollen und konstruktiven Austausch bitten wir Euch folgende Regeln zu beachten:
Wir danken Euch für Eurer Verständnis und Eure Mitwirkung und wünschen Euch viel Freude beim Kommentieren.

Wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden?

Wie sind Sie auf uns Aufmerksam geworden