Alle lernen dasselbe zur selben Zeit: Dass diese klassische Form des Unterrichtens für ihre Schule nicht geeignet ist, wussten die Leitung und das Kollegium der Martin-Niemöller-Schule schon seit Langem. Die Schule im südhessischen Riedstadt ist eine Integrierte Gesamtschule ohne Oberstufe. Die 1.000 Schülerinnen und Schüler sind sowohl hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit als auch bezüglich ihrer persönlichen und sozialen Voraussetzungen sehr heterogen. In den Hauptfächern sowie in einigen anderen Fächern wurden sie deshalb in zwei Gruppen eingeteilt: Es gab Erweiterungskurse für leistungsstärkere Kinder und Grundkurse für die leistungsschwächeren. Doch spätestens mit der Pandemie, als die Kinder und Jugendlichen nach monatelangen Lockdowns in die Schule zurückkamen, wurde Martin Buhl und seinem Team klar: Das reicht nicht mehr. „Die zweifache Differenzierung hat die Realität, die wir in unserer Schule haben, einfach nicht mehr abgebildet“, sagt der Schulleiter.
Eine weitere Erkenntnis: Das Problem liegt tiefer als mangelhafte Sprachkenntnisse oder Schwierigkeiten mit Mathematik. „Wir beobachten zunehmend, dass vielen Schülerinnen und Schülern grundlegende Kompetenzen fehlen, um erfolgreich ins Lernen zu kommen“, erzählt Buhl. Wichtige Voraussetzungen wie Selbstorganisation, Verantwortungsbewusstsein, aber auch Zutrauen in das eigene Können seien oft nicht ausreichend ausgebildet.
Im Lernraum wird gefördert und gefordert
Um dieser zweifachen Herausforderung zu begegnen, entwickelten Schulleitung und Steuergruppe ein neues Unterrichtskonzept: den Lernraum. Es sieht vor, dass für alle Jahrgänge täglich eine feste Unterrichtsstunde auf einem gemeinsamen Zeitband liegt. Diese „Lernraumstunde“ untergliedert sich in den individuellen Lernraum und den fachlichen Lernraum.
Im individuellen Lernraum bleiben die Schülerinnen und Schüler in ihrem Klassenraum und bearbeiten in eigener Verantwortung Aufgaben, die auf ihren Lernstand abgestimmt sind. Im fachlichen Lernraum erhalten sie Förderunterricht in Bereichen, in denen sie Rückstände aufweisen – von Mathematik und Deutsch bis hin zu überfachlichen Kompetenzen wie Motorik, Konzentration und Arbeitsstrategien. Auch Förderkurse für leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler wie etwa „English conversation“ gehören nun zum Angebot.
So die Idee, die im Frühjahr 2020 an der Martin-Niemöller-Schule entstand. Bereits im August desselben Jahres begann die Pilotphase in Klassenstufe 5, in den folgenden Jahren wurde der Lernraum Stück für Stück auf die weiteren Jahrgänge ausgeweitet. Und am Ende vom Schuljahr 2023/2024 beschloss die Gesamtkonferenz mit einer Zweidrittelmehrheit die dauerhafte Einführung des Konzepts. Eine Erfolgsgeschichte.
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Ausprobieren, optimieren – ein Kraftakt
Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Zum einen, weil das Konzept immer wieder angepasst wurde. Wie viele Stunden sollen die Schülerinnen und Schüler im Lernraum verbringen? Wie müssen Aufgaben gestaltet sein, damit die Kinder motiviert und eigenständig daran arbeiten können? Wie stellen wir Transparenz her, sodass alle Beteiligten wissen, wann was zu tun ist? Diese und viele weitere Aspekte wurden im Laufe der Jahre diskutiert, ausprobiert, optimiert. In ständiger Abstimmung mit allen Beteiligten.
Vor allem im Kollegium habe es zunächst Widerstände gegeben, so Buhl. Zu plötzlich kam die Veränderung, zu groß war die Unsicherheit – und zu fremd der Gedanke, Fachinhalte vom lehrergesteuerten Unterricht in ein offenes Lernkonzept zu verlagern. Auch deshalb erfolgte die Einführung Schritt für Schritt. Und auch deshalb war Martin Buhl froh, dass die Einführung des Lernraums mit der Teilnahme seiner Schule an der „Schule macht stark“-Initiative (SchuMaS) zusammenfiel.
„SchuMaS“, ein Vorläufer des Startchancen-Programms, war eine gemeinsame Initiative der Länder und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Die Idee: Wissenschaft und Schulen arbeiten Hand in Hand an Strategien und Konzepten für Schulen in sozial schwierigen Lagen. Als die Martin-Niemöller-Schule im Februar 2021 die Zusage für die Teilnahme an dem Programm erhielt, war das Lernraum-Projekt bereits gestartet. „Das war ein Glücksfall“, sagt Martin Buhl heute. „Denn alle Unterstützungsmaßnahmen von SchuMaS haben uns extrem bei unserem Prozess geholfen.“
„Alle Unterstützungs-maßnahmen von SchuMaS haben uns extrem bei unserem Prozess geholfen.“
Martin Buhl, Schulleiter der Martin-Niemöller-Schule in Riedstadt
Von den Erfahrungen anderer lernen
So sei der Austausch mit anderen Schulleitungen sehr wertvoll gewesen, erzählt Buhl. Von den Rückmeldungen und Erfahrungen anderer habe er viel gelernt und so den ein oder anderen Fehler vermeiden können. Mindestens ebenso wichtig war für ihn die intensive Beschäftigung mit dem designbasierten Schulentwicklungsansatz, bei dem Schulen für komplexe Probleme mit aktiven Methoden des Ausprobierens und des ständigen Verbesserns eigene Lösungen entwickeln. Auch profitierte Buhl enorm von der Begleitung durch Mitarbeitende des regionalen SchuMaS-Zentrums. All dies habe ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen geholfen, den Prozess in der eigenen Schule zu steuern – und so partizipativ wie möglich zu gestalten.
Inzwischen ist die Lehrerschaft der Martin-Niemöller-Schule überwiegend pro Lernraum. Und das eine Drittel, das 2024 noch dagegenstimmte? „Das ist keine Fundamental-Opposition“, erklärt Buhl. Im Alltag hätten sich alle auf das neue Modell eingelassen.
„SchuMas“-Sammelband und Praxisband
Zum Abschluss von „Schule macht stark“ (SchuMas) veröffentlichte die Initiative einen Sammelband mit zentralen Erkenntnissen für Schulen im Brennpunkt. Wie können Schulen in benachteiligten Lagen gestärkt werden? Wie können tragfähige Partnerschaften zwischen Wissenschaft, Schulpraxis und Bildungsadministration entstehen? Das sind zwei von vielen Fragestellungen, mit denen sich die zahlreichen Autorinnen und Autoren der 460 Seiten umfassenden Publikation befassen. Schulleiter Martin Buhl gibt hier in dem Beitrag „Das datengestützte Reflexionsgespräch als Schlüsselmoment für Schulentwicklungsberatung“, seine Erfahrungen und Perspektive wieder, zu finden ab Seite 161.
Daneben ist auch ein Praxisband erschienen. Dort gewähren mehr als 45 Schulen Einblicke in ihre Entwicklungsprozesse im Rahmen der SchuMas-Initiative. Ab Seite 79 findet sich auch hier ein Beitrag von Schulleiter Martin Buhl, in dem er vertieft auf das Lernraumkonzept eingeht. Der Titel: „Auf dem Weg zu offenen Lernkonzepten: die Etablierung des Lernraums an der Martin-Niemöller-Schule“.