Demokratieförderung

„Ein Neutralitäts­gebot für Lehr­kräfte gibt es nicht“

Im Interview räumt Lehrer und Buchautor Haluk Yumurtacı mit einem weitverbreiteten Mythos auf. Lehrkräfte sollten sich einbringen, statt wegzusehen.

Nehmen wir an, ein Schüler behauptet im Unterricht, die meisten ausländischen Mit­bürgerinnen und Mitbürger seien kriminell. Ist das vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt?

Haluk Yumurtacı: Es wäre wahrschein­lich von der Meinungsfreiheit gedeckt, problematisch ist es dennoch. Bei dis­kriminierenden Äußerungen – egal, ob sie frauenfeindlich, homophob oder rassistisch sind – sollten Lehrkräfte unbedingt dagegenhalten.

Und Wie?

Yumurtacı: Ich würde fragen, wie der Schüler zu der Aussage kommt, welche Belege er anführen kann. Ich würde die These zum Unterrichts­gegenstand machen und ihr mit der Klasse auf den Grund ge­hen. Wir würden besprechen, wo wir Infor­mationen und Statistiken finden, um die Aussage zu überprüfen. Also einfach nur zu sagen, dass die Aussage falsch ist, wäre proble­matisch, weil diese damit nicht widerlegt würde.

Auch die politische Urteilsfähigkeit ist dem Lehrer und Autor wichtig. Schülerinnen und Schüler müssten in die Lage versetzt werden, sich eine politische Meinung zu bilden.

Viele Lehrkräfte sind aber verunsichert, wie sie sich in solchen Situationen verhalten sollen, und verweisen auf das Neutralitäts­gebot. Was ist da dran?

Yumurtacı: Um es klar zu benennen: Ein Neutralitätsgebot für Lehrkräfte gibt es nicht. Viele verstehen den Beutels­bacher Konsens falsch, der in den 1970er-Jahren die Grundsätze für die politische Bildung festgelegt hat. Er beinhaltet lediglich ein Indoktrinations­verbot, wo­nach Lehrkräfte Schülerinnen und Schülern nicht ihre Meinung auf­zwingen dürfen. Außer­dem gilt ein Kontroversitätsgebot. Das heißt, dass im Unterricht alles kontrovers diskutiert werden sollte, was in der Wissenschaft und in der Ge­sellschaft diskutiert wird. Drittens geht es um die Befähigung zur politischen Urteilsfähigkeit. Schüler­innen und Schüler müs­sen in die Lage versetzt werden, sich eine politische Meinung zu bilden. Eine Neutralitäts­pflicht gilt für Richterinnen und Richter, aber nicht für Lehrkräfte.

„Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, sich eine politische Meinung zu bilden.“

Warum hält sich dieser Mythos trotzdem so hartnäckig?

Yumurtacı: In der Ausbildung wird das Problem viel zu wenig bis gar nicht thematisiert. Dabei ist klar: Lehrerinnen und Lehrer müssen die Demokratie und die Grundrechte schützen und demo­kratische Werte vermitteln. Das schwö­ren sie mit ihrem Amtseid. Aktuell sind viele Lehrkräfte vor allem im Um­gang mit der AfD verunsichert. Einige haben Angst, weil sie wissen, dass die AfD schon Listen mit Lehr­kräften veröffent­licht hat, die sich angeblich nicht neu­tral verhalten hätten. Daher ist es umso wich­tiger, dass die Landesregierungen ihre Beamtinnen und Beamten besser stärken und schützen.
Mobbing, Rassismus, Beziehungsarbeit: Themen, die Haluk Yumurtacı auf seinem Instagram-Account @vallahbestelehrer behandelt.

Demokratische Werte zu ver­mitteln, ohne die per­sönliche Meinung in den Mittelpunkt zu stellen, könnte zum Balanceakt werden.

Yumurtacı: Nehmen Sie noch mal das Beispiel der AfD. Viele Lehrkräfte glau­ben, sie dürften sich nicht kritisch äußern. Dabei wurden meh­rere AfD-Landesver­bände vom Verfassungs­schutz als gesich­ert rechtsextrem eingestuft. Das kann man aufgrund der Faktenlage klar benen­nen, ohne damit seinen persönlichen Standpunkt wie­derzugeben. Manchmal weisen mich Schülerinnen und Schüler darauf hin, dass ich politisch neutral sein müsse. Ich entgegne, dass das nicht meine persönliche Meinung ist, sondern der Faktenlage entspricht. Wenn Ju­gend­liche mich fragen, welche Partei ich wähle, sage ich: eine verfassungskon­forme Partei.

Mit Fakten befähigt man Schüler­innen und Schüler, sich eine politische Meinung zu bilden?

Yumurtacı: Ja, wenn man im Unterricht bei­spielsweise Parteien und Program­me durch­nimmt, können gewisse Dinge klar geäußert werden. Beispielsweise ist eine Partei nicht automatisch ver­fassungs­konform, nur weil sie demo­kratisch ge­wählt wurde. Alles, was im Unterricht an Falschaussagen getätigt wird, muss man diskutieren. Anhand dessen erläutere ich, bei welchen seriösen Quellen man sich informieren kann. Es gibt tolle Instagram-Profile wie etwa das von der Bundeszen­trale für po­litische Bildung, die politische Inhalte schüler­gerecht zusammenfassen. Auch alle Parteien sind in den sozialen Netz­werken vertreten, und der Wahl-O-Mat gibt einen guten Überblick über deren Positionen.

Wie nähern Sie sich Schülerinnen und Schülern mit extremistischen Einstellungen?

Yumurtacı: Einer meiner Schüler erzählte im Unterricht, dass er die AfD wähle. Er saß zwischen zwei türkisch­stämmigen Jungs, mit denen er be­freundet war. Er sagte, es gehe nicht um die guten Aus­länderinnen und Ausländer, sondern nur um die schlech­ten, die man nicht haben wolle. Eigent­lich fand er keine Argumente. Dann sagte er, in seinem Freundes­kreis gebe es eben Nazis, und er sei ein biss­chen mit drin. Das waren interessante Ge­spräche. Im Laufe des Schuljahres merkte er jedoch, dass das, was er po­litisch vertrat, gar nicht seine eigene Meinung war. Er hatte sie von einem problema­tischen Freundeskreis über­nommen. Das Beispiel zeigt: Man muss als Lehrkraft den Austausch suchen und dranbleiben.

Manch unangenehme Diskussion und kritische Themen sparen Lehr­kräfte aus Unsicherheit aber lieber aus …

Yumurtacı: Ja, zum Beispiel thema­tisieren viele Lehrkräfte die Kriege im Nahen Osten lieber nicht, aus Sorge, etwas falsch zu machen. Aber auch Schweigen ist proble­matisch. Denn Demo­kratie braucht Kon­fliktfähigkeit! Gerade zu Be­ginn des Krie­ges waren die Jugendlichen, deren Fa­milien einen Bezug zu diesen Ländern haben, emo­tional sehr angespannt, da sie keinen Safe Space bekommen haben, um darüber reden zu können. Dabei soll Schule genau diese Möglich­keit bieten.
Schule als Safe Space: Sie sollte die Möglichkeit bieten, über Probleme und kritische Themen miteinander ins Gespräch zu kommen.

Wären da nicht das Zeitproblem und die vollen Lehrpläne.

Yumurtacı: Ich finde es wichtig, bei Gesprächsbedarf den eigentlichen Unterricht trotz enger Zeitpläne und weniger Stunden beiseitezulegen, auf das bewegende Thema einzu­gehen und Emotionen zuzu­lassen. Wenn man das nicht tut, holen sich die Jugendlichen ihre Informationen eben aus den so­zialen Medien. Dann besteht die Gefahr, dass sie Falschinformationen unbe­wusst und unreflektiert konsu­mieren und diese weiterverbreiten.

Aber die Themen werden immer vielfältiger: von Kriegen bis zum Klima­wandel. Wie können sich Lehrkräfte all diesen Anforde­rungen stellen?

Yumurtacı: Indem sie beispielsweise kontinuierlich Fortbildungen besuchen, um aktuelle Themen zu verstehen und die rasche Dynamik der jeweiligen Ge­neration nachvollziehen zu können. Denn es ist notwendig, dass Lehrkräfte komplexe Themen stets anschaulich und altersgerecht vermitteln.
Jedes Mobiltelefon hat seinen Platz. Jugendliche seien viel in den sozialen Medien unterwegs, so Yumurtacı. Dort verbreiten sich Falschinformationen und Hetze schnell.
Yumurtacı: „Ich finde es wichtig, bei Gesprächsbedarf den eigentlichen Unterricht trotz enger Zeitpläne und weniger Stunden beiseitezulegen, auf das bewegende Thema einzugehen und Emotionen zuzulassen.“
Der Lehrer an der Berufsbildenden Schule in Germersheim stellt das Miteinander in den Mittelpunkt seines Tuns. „Ohne Beziehung kann Bildung nicht funktionieren“, erklärt er überzeugt.

In Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern geht es schon mal hitzig zu. Welche Rolle sollten Lehrkräfte dabei einnehmen?

Yumurtacı: Als Lehrkraft muss ich mit meinem Wissen auf Fragen eingehen. In Diskussionen bin ich nicht nur Mo­derator, sondern auch Mediator. Doch die wich­tigste Kompetenz, die Lehr­kräfte abge­sehen vom Fachwissen mitbringen sollten, ist Empathie. Ohne Beziehung kann Bildung nicht funk­tionieren.

Foto: © Katharina Werle

Haluk Yumurtacı ist Lehrer für Philosophie/Ethik, Sozialkunde, Islamische Religion und Deutsch als Zweitsprache an der Berufsbildenden Schule in Germersheim. Außerdem ist er Mediator, Traumapädagoge und Autor des Ratgebers „Anti-Rassismus für Lehrkräfte“. Auf seinem Instagram-Account @vallahbestelehrer thematisiert er unter anderem Mobbing, Rassismus und Beziehungsarbeit. 

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