Schulentwicklung

Wertvolle Sicht von außen

Carsten Haack und sein Kollegium entwickeln seit mehr als zehn Jahren ihre Schule weiter. Unterstützt werden sie dabei von einem externen Berater. Es tut sich viel.

Von der Kieler Förde sind es nur wenige Schritte bis zu dem denkmal­geschützten Backstein­gebäude. Obstbäume wachsen vor dem Eingang. In den Fluren hängen bunte, fröhliche Kindermalereien. Der Pausenhof mit Tischtennisplatten und Street-Soccer-Court ist erlebnispädagogisch gestaltet: Die Theodor-Storm-Gemeinschafts­schule in Kiel wirkt wie ein idealer Ort zum Lernen und Lehren. Doch die Schule liegt im Stadtteil Wellingdorf, er gilt als sozialer Brennpunkt. Der Schulsozialindex 9 signalisiert: Hier ist die Belastung besonders groß.

Einen Tag vor den Sommerferien sitzt Schulleiter Carsten Haack mit Schul­entwicklungsberater Andreas Leipelt in seinem Büro. Beide blicken erneut auf ein heraus­forderndes Jahr zurück. Armut und Migration bestimmen die Arbeit von Haack und seinem Team. „Bei uns hat jedes vierte Kind Flucht­erfahrung“, sagt der Schulleiter. Fast alle Schülerinnen und Schüler sprechen zu Hause kein Deutsch. Konflikte sind an der Tagesordnung, Schul­absentismus ist ein chronisches Problem. „Insgesamt starten unsere Schülerinnen und Schüler immer fünf Schritte hinter der Grundlinie“, sagt Haack. Er schaut zu Andreas Leipelt: „Deshalb bin ich froh über jede Unter­stützung.“

Carsten Haack (l.) entwickelt seine Schule stetig weiter. Er setzt dabei auf Beratung von außen, vertreten durch Schulentwicklungsberater Andreas Leipelt.
Fröhlichkeit im Brennpunkt: In der Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule in Kiel sollen die Schülerinnen und Schüler bestmögliche Lernbedingungen haben.

Drei Pfeiler der Schul­entwicklung

Seit über zehn Jahren arbeitet der Schul­leiter nun mit dem systemischen Berater zusammen. 2009 musste Haack im Rahmen der Schulstrukturreform seine Realschule mit der benachbarten Grund- und Haupt­schule fusionieren – und zwei unterschiedliche Welten zusammenführen. „An den Haupt­schulen gab es geübte Leute im Um­gang mit herausforderndem Verhalten. An der Realschule hingegen beruhte alles auf Fachautorität“, erinnert sich Haack.

Der Schulleiter nahm die Fusion zum Startpunkt einer systematischen Schul­entwicklung. Dafür suchte er pro­fessionelle Begleitung und fand sie in Andreas Leipelt. „Um eine Draufsicht auf unsere Strukturen gewinnen zu können, war ich dringend darauf angewiesen, mich mit jemandem von außen auszutauschen“, schildert Haack. Zusammen mit dem Berater iden­tifizierten Haack und sein Team drei Kernziele: ein gemeinsames Commit­ment des Kollegiums, eine intensivierte Beziehungsarbeit mit den Kindern und Familien sowie die Ent­wicklung und Förderung indi­viduali­sierter Lern­möglichkeiten. „Wir möchten erfolgreiches Lernen trotz zahlreicher Schwierig­keiten ermöglichen und gleich­zeitig unsere Lehrkräfte strukturiert unterstützen“, erklärt Haack den Plan.

Engmaschiges Unterstützungssystem für Lehrkräfte

Bei diesem Prozess nehmen die Klassenleitungen eine zentrale Rolle ein. „Das ist ein wesentlicher Unterschied zu anderen Schulen, an denen auffällige Kinder automatisch sozial­päda­gogischen Fachkräften zugewiesen werden oder in einem Trainingsraum landen, während sich die Klassenleitung auf den funktionierenden Rest kon­zentriert“, sagt Haack. „Bei uns kennt die Klassenleitung die Bedarfe jedes Kindes, außerdem seine familiären Verhältnisse, medizinischen Besonder­heiten und sozialen Hintergründe. So kann sie den Großteil der Schülerinnen und Schüler individuell begleiten.“

Eines der Kernziele der Schule: die Entwicklung und Förderung individualisierter Lernmöglichkeiten für alle Kinder.
In rund 20 Prozent der Fälle sind die Heraus­forderungen aber so groß, dass die Klassen­leitung die Unterstützung des multiprofessionellen Teams braucht. Dieses hat Carsten Haack über die vergangenen zehn Jahre auf­gebaut, ermöglicht durch Fördermittel, die die Schule seit 2019 als PerspektivSchule vom Land erhält. Jeden Donnerstag kommen seitdem Klassenleitungen, sozial­pädagogische Fachkräfte sowie Mit­arbeitende vom Allgemeinen Sozialdienst (ASD) zusammen, um diese Fälle zu besprechen. Gemeinsam werde dann ent­schieden, welche Unter­stützung für das jeweilige Kind und seine Familie sinnvoll ist, erläutert Haack. Die klare Botschaft an die Kinder laute immer: „Wir sehen dich, wir lassen dich nicht allein. Wir bleiben bei dir, auch wenn es schwierig wird!“

„Wir möchten erfolgreiches Lernen trotz zahlreicher Schwierigkeiten ermöglichen und gleichzeitig unsere Lehrkräfte strukturiert unterstützen.“

Alternative Lehrmaterialien

Auch bei der Unterrichtsentwicklung haben Haack und sein Kollegium die Möglich­keiten des einzelnen Kindes ins Zentrum ihrer Bemühungen gestellt. Ihre Erfahrung: Die Rahmenpläne und Bildungs­anforderungen sind für ihre Schülerinnen und Schüler oft zu schwer und zielen an ihrer Lebenswirklichkeit vorbei. Also machte sich das Kollegium daran, eigene alternative Lehr­materialien zu entwickeln. „Die Texte und Aufgaben müssen ver­ständlich sein und das wiedergeben, was die Kinder kennen, erlebt haben oder sich vorstellen können“, erklärt Haack den Leitgedanken. Im schuleigenen Curriculum sortiert das Kollegium alles aus oder um, was die Kom­petenzen der Schülerinnen und Schüler übersteigt. „Wir trennen uns beispielsweise von der Interpretation von Kurzgeschichten in den Abgangs­klassen und etablieren in allen Klassen eine tägliche 20-minütige Lesezeit. In den Randstunden bekommen die Kinder weitere Unterstützungsangebote“, so der Schulleiter.
Die vielen von Carsten Haack und seinem Team an­gestoßenen Veränderungen tragen Früchte. Doch Schul­entwicklung endet nie, weiß der Rektor.
Die Schülerschaft an der Theodor-Storm-Gemein­schafts­schule ist sehr heterogen. Carsten Haack stellte sich die Frage: Wie kann Schule dem besser gerecht werden?
Um die Curricula stetig weiter­zuentwickeln, arbeiten Lehrkräfte in Kleingruppen zusammen. Digitale wie analoge Tools helfen, Unterrichts­einheiten zu dokumentieren, Lernerfolge zu verfolgen und Fördermaßnahmen zu koordinieren. „Alles mit dem Ziel, den Kindern und Jugendlichen die Basis­kompetenzen zu vermitteln, die sie für einen erfolgreichen Abschluss und den Einstieg ins Berufsleben benötigen“, sagt Haack.
Bei der Unterrichtsentwicklung haben Haack und sein Kollegium gemeinsam mit Andreas Leipelt die Möglichkeiten des einzelnen Kindes ins Zentrum ihrer Bemühungen gestellt.

Fortschritte durch kontinuierliche Beratung

Andreas Leipelt unterstützt als Prozess­begleiter Schul­leitung und Kollegium dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Gemeinsam mit dem Schul­leitungsteam koordiniert er die Schul­entwicklungsprozesse, damit sie gut ineinander­greifen. Er begleitet in Krisen­situationen, wenn etwa durch äußere Faktoren wie die Zuteilung eines zweiten Standorts zum vergangenen Schuljahr etablierte Strukturen angepasst werden müssen. „Als neutraler Beobachter kann ich außerdem gut zwischen Parteien vermitteln“, beschreibt Leipelt seine Rolle. So moderiert er etwa ver­schiedenste Abspracheformate der Arbeitsgruppen und ermöglicht es Haack dadurch, sich in diesen Prozessen auf seine Rolle als Schul­leiter zu konzentrieren und die Schule konzeptionell voranzu­bringen. „So entlaste ich das Schulleitungsteam und stabilisiere die Prozesse im Kollegium“, sagt Berater Leipelt. Denn Schul­entwicklung bedeutet grund­legende Ver­änderung – und die lasse sich nicht von oben ver­ordnen, sondern nur gemeinsam anstoßen, aus­handeln, um­setzen und leben, so Haack. „Partizipation ist hier der ent­scheidende Faktor. Daher haben wir vor vier Jahren eingeführt, dass alles, was mit einer Zweidrittel­mehrheit im Kollegium beschlossen wird, gilt.“ Auch bei diesem Schritt hat ihn Berater Leipelt bestärkt. Für Haack ist er eine lohnende Investition: „Ich führe die Wirksamkeit unserer Schulentwicklung ganz klar auf die Kontinuität in der Prozessbegleitung zurück.“

Gewachsenes Commitment

Um die neu geschaffenen Strukturen abzusichern, gibt es mehr Personal an der Schule: vier zusätzliche Lehrkräfte, die die Schulleitung erweitern und die Klassenleitungen unter­stützen. Außer­dem sozialpädagogische Fachkräfte, die sich speziell den emotional-sozialen Herausforderungen der Kinder widmen. Alles wird aus den Mitteln des Förder­programms finanziert, seit 2024 heißt es „PerspektivSchule Kurs 2034. Das Startchancen-Programm in SH“.

Carsten Haack hat mit seinem Team viel erreicht. Der größte und wichtigste Erfolg für den Schulleiter aber ist der starke Zusammenhalt, der im Kollegium ge­wachsen ist. Das Commitment, mit dem sich alle dem gemein­samen Ziel ver­schrieben haben, „pädagogisch best­möglich dafür zu sorgen, dass die Kinder sich an­ge­nommen, aufgehoben und ernst genommen fühlen.“

Doch Schulentwicklung endet nie, weiß Haack. Sein Ziel für die nähere Zukunft: mit datengestützter Schul- und Unterrichts­entwicklung die Voraus­setzung für den gezielten Einsatz von KI zu schaffen, um Lehrmaterialien noch genauer auf den individuellen Bedarf der Schülerinnen und Schüler zu­schneiden zu können. „Mit dem Blick auf Bildungsgerechtigkeit müssen wir noch stärker zu Lerncoachinnen und Lerncoaches werden, die einzelnen Kindern gezielt helfen. Kinder brauchen Er­wachsene, die ihnen Mut machen: ‚Du schaffst das – auch wenn du es jetzt noch nicht kannst.‘“

Obstbäume säumen das Schulgelände, jedes Jahr werden neue gepflanzt. Eine Maßnahme mit Symbolkraft.

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