Soziales und fachliches Lernen

Von Drachen, Ponyfasching und Selbstwirksamkeit

Zu Gast in Waren: Im Rahmen des Projekts „Lernen durch Engagement“ lesen Schulkinder Kitakindern vor. Die positiven Effekte auf beiden Seiten sind enorm.

Es ist ein warmer Freitagmorgen in Waren an der Müritz, als sich 24 Schülerinnen und Schüler der Grundschule „Käthe Kollwitz“ zu Fuß auf den Weg in die Kita Friedrich Fröbel machen. Heute ist wieder Vorlesetag. Ganz vorne in der Zwei­er­reihe laufen Luisa und Lilli. Ein bisschen aufgeregt seien sie schon, erzählen die beiden Neunjährigen. „Man liest ja nicht jeden Tag anderen Kindern vor“, sagt Luisa, „aber ich freue mich auch darauf.“ Schon zum fünften Mal treffen sie gleich auf ihre Partnerkinder.

Die Vorleseaktion ist eines von mehreren Projekten von „Lernen durch Engagement“ (LdE) an der Grundschule. Das Prinzip: Die Kinder entwickeln im Rahmen des Unter­richts Ideen, wie sie fachliches Lernen – in diesem Fall Vorlesen und Textverständnis – mit gesellschaft­lichem Engagement in den Bereichen Soziales, Kultur oder Umwelt ver­binden können. Während sie etwas für andere Menschen tun, sammeln sie demo­kratische Erfahrungen und bauen ihre sozial-emotionalen Basiskompetenzen aus. Damit dockt das Projekt gut an das Start­chancen-Programm an, an dem die Schule teilnimmt.

Nichts wird vorgegeben – alles selbst entwickelt

Luisa, Lilli und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben sich also fürs Vorlesen entschieden. Die Mäd­chen und Jungen sind inzwischen in der Kita ange­kommen. Gemeinsam mit ihrer Lehrerin Lara Sophie Fuchs und einer Mutter, die die Gruppe beglei­tet, betreten sie das Foyer. Sie ziehen Jacken und Schuhe aus und warten geduldig, bis die Kitagruppe zu ihnen kommt. „Geht nun zu eurem Part­ner­kind“, motiviert eine Er­zieherin die Jüngeren. Schon laufen sie los. Maja, das Mädchen im gelben Kleid, und Albert in seinem dunklen Pulli finden Lilli und Luisa in dem Gewimmel schnell.

Lara Sophie Fuchs kam nach ihrem Referendariat in Rostock vor knapp drei Jahren an die Grundschule in Waren und betreut seitdem die LdE-Projekte. Die 27-Jährige erklärt: „Das Partizipative daran ist, dass ich nichts vorgebe.“ Die Schü­lerinnen und Schüler über­legen sich selbst, aus welchem Buch sie vorlesen und was sie mit den Kindern zusätzlich unternehmen. Um die Interessen ihrer Kitakinder besser kennen­zulernen, haben die Schülerinnen und Schüler etwa beim letzten Treffen ihre Partnerkinder inter­viewt. „Sie waren so schnell mit dem Vorlesen fertig, deshalb haben sie da­rüber hinaus Spiele vorbe­reitet und Ausmalbilder zu den Büchern gemalt“, erzählt die Lehrerin.

Viele Bücher stehen zur Auswahl. Die Schülerinnen und Schüler aber können selbst entscheiden, aus welchem Werk sie vorlesen möchten.
Vorlesen ist keine Einbahnstraße: Alle machen mit, schauen sich gemeinsam auch die Bilder im Buch an. Das verbindet.

Viel Vorbereitung für beste Unterhaltung

Lilli und Luisa sitzen mit ihren beiden Partnerkindern auf Polster­elementen in einem Kreis. Luisa holt DIN-A4-große Bilder und ein Buch hervor. „Paula auf dem Pony­hof – Ponyfasching“ steht darauf. Das Buch hatten ihr zwei Klassen­kameradinnen empfohlen, die es beim letzten Mal in der Kita vorge­lesen haben. Die Kinder tauschen sich regel­mäßig darüber aus, welche Bücher gut ankommen. Einige stammen aus der Klassen­bibliothek, andere bringen sie von zu Hause mit. Luisa liest eine Seite aus dem Buch vor, während Lilli eines der DIN-A4-großen Bilder hochhält. Nach Luisa liest Lilli eine Seite, dann wechseln sie wieder. Auch Paul weiß genau, was er mit Kita­kind Lenny heute machen will. Er hat ein Troll-Buch mitgebracht. Erst liest Paul daraus vor, dann legen die zwei Jungs zusammen ein Troll-Puzzle, das Paul selbst gebastelt hat. Für das Puzzle hat sich der Schüler eine eigene Geschichte aus­gedacht: „Ein Troll hatte einmal eine Schere. Er wusste nicht, was er damit machen soll, da hat er ein Bild zerstört“, erzählt er Lenny, der gespannt zuhört. Die beiden sitzen in einer Spiel­ecke und puzzeln. Wenn Lenny ein Puzzleteil richtig legt, lobt Paul ihn.

Die Angst vor der Schule nehmen

Die Kitakinder sind fünf bis sechs Jahre alt. Durch das Vorleseprojekt werden sie auch auf die Schule vor­bereitet. Lenny wird im Sommer eingeschult, er kommt ebenfalls auf die Grundschule „Käthe Kollwitz“. Jetzt ist der Junge nicht mehr ganz so unruhig beim Gedanken an den Schulstart, schließlich kennt er Paul. „Viele Kitakinder haben Angst vor dem Schulbeginn“, erzählt Erzieherin Nicole Luttermann. Sie seien un­sicher, was sie in der Schule er­warte. „Wenn ich die Kinder jetzt – nach den Treffen mit den Grund­schul­kindern – frage, wie es ihnen mit der anstehenden Einschulung geht, dann freuen sich die meisten darauf“, sagt sie. Nach dem Vorlesen spielen die Kinder gemeinsam. Kitakind Maja strahlt. „Das war tausendmal gut“, sagt sie über das Buch vom Pony­fasching, das Luisa und Lilli ihr vorgelesen haben. „Ich fühle mich, als hätte ich noch eine Schwester.“ Eineinhalb Stunden später machen sich die Schülerinnen und Schüler wieder auf den Rückweg. Dass die Kitakinder viel Spaß mit ihnen hatten, findet Luisa richtig gut.
Viel Platz, viele Bücher, viele Kinder: Beim Vorleseprojekt bauen alle teilnehmenden Kinder verschiedene Basiskompetenzen aus.
Paul (links) liest Lenny vor. Der Kitajunge hört und schaut gebannt zu – bald kommt er auch auf die Grundschule „Käthe Kollwitz“.

Erfolgserlebnisse aus eigener Kraft

„Die Schülerinnen und Schüler erfahren, dass sie das, was sie selbst erarbeitet haben, auch an­wenden können“, so Lehrerin Fuchs, die auch beobachtet, dass gerade Kinder, denen der Unter­richt nicht leichtfällt, beim Vorleseprojekt glänzen können. „Durch diese Be­suche kommt so viel zum Vor­schein, was in den Kindern steckt und im normalen Unter­richt nicht her­aus­kommt. Sie können sich ganz anders einbringen“, betont sie. Nach der Pause auf dem Schulhof sollen die Kinder ein Tier malen, das zeigt, wie sie sich gerade fühlen. Luisa versucht sich an einem Fuchs. Sie erklärt: „Weil ich mich fuchs­tastisch fühle.“ Es sei toll gewesen, dass die beiden Kitakinder so auf­merksam zu­ge­­hört hätten. Paul, der Junge mit dem Troll-Buch, malt einen Drachen. „Ich fühle mich so anmutig und stolz wie ein Drache“, sagt der Junge. Lenny habe das erste Mal richtig zuge­hört und alle seine Fragen zum Buch beantworten können.
Erzieherin Nicole Luttermann bemerkt an ihren Kitakindern, dass sie nach der Vorleseaktion mutiger sind, sich auf den Schulstart freuen.
Lara Sophie Fuchs ist Lehrerin an der Grund­schule „Käthe Kollwitz“. Seit drei Jahren begleitet sie die „Lernen durch Engagement“-Projekte.

„Lernen durch Engagement“ kompakt

Das Vorleseprogramm an der Grund­schule „Käthe Kollwitz“ ist Teil des Projekts „Lernen durch Engagement an Grund­schulen“, einem von mehreren Modellprojekten der Stiftung Lernen durch Engagement. „Lernen durch Engagement“ steht für eine innovative Lern­kultur, in der Kinder gesell­schaftliche Herausforderungen im Unterricht aufgreifen und ihr Wissen direkt im Gemeinwesen anwenden. So wird aus Lernen Handeln – und aus Schüler­innen und Schülern werden aktive Gestal­terinnen und Gestalter ihrer Umgebung. Sie erleben, dass ihr Engage­ment Wirkung zeigt und ihre Stimme zählt.

Die Projekte, die daraus ent­stehen, sind sehr vielfältig: Es gibt soziale, kulturelle oder umwelt­bezogene Projekte. Oft arbeiten diese mit ihrem regionalen Umfeld zusammen, das können neben Kitas bei­spielsweise auch Alten­heime oder Einrichtungen der Obdach­losenhilfe sein. Das Mo­dell­­pro­jekt für Grundschulen wurde 2022 bis 2024 bereits in vier Bundesländern (Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklen­burg-Vorpom­mern und Sach­sen-Anhalt) mit den regionalen Partner­organi­sationen der Stiftung an je­weils zehn Grund­schulen er­probt, weitere Bundes­länder und Schulen sollen 2025 hinzu­kommen. Gefördert wird das Programm „LdE an Grund­schulen“ von der Auridis-Stiftung.

In jedem Bundesland kümmert sich je ein LdE-Kompetenz­zentrum um die Betreuung der Schulen und Lehrkräfte. Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort entwickeln Angebote für Lehrkräfte, bieten Fort­bil­dungen an und fördern den Austausch untereinander. „Unser Ziel ist es, dass die Lernform aus dem Projekt Lernen durch Engagement ganz tief in den Strukturen der Länder verankert werden kann“, so Eva Ritzenhoff, die als Projektleiterin bundesweit für das Programm zuständig ist. Deshalb spricht die Stiftung auch mit den Bildungs­ver­waltungen und den Fort­bildungsstätten für Lehrkräfte. Hinzu kommen digitale Ange­bote und Publikationen, die die Lernform sichtbar machen. Zur Weiter­entwicklung gehört auch eine wissenschaftliche Be­gleitung durch die Ruhr-Universität Bochum (siehe Infokasten).

Begleitforschung durch die Ruhr-Universität Bochum

Die Ruhr-Universität Bochum begleitet das Projekt „Lernen durch Engagement“ wissen­schaftlich. Die Forschungs­arbeit ist auf einen Zeitraum über drei Jahre (10/2022–09/2025) angelegt. Ziel ist die Analyse der didaktischen Ausgestaltung sowie der pädagogischen Wirksamkeit des Programms. Das Team um Matthias Forell untersucht dabei unter anderem, wie sich das Projekt auf die Bil­dungs­­gerechtigkeit auswirkt und ob es zur Reduzierung von Bil­dungsungleichheit beitragen kann.

Die Forscherinnen und Forscher nehmen auch die berufs­be­zogenen Haltungen der teil­nehmenden Lehrpersonen unter die Lupe. Erste Erkennt­nisse zeigen, dass die Lehr­kräfte davon ausgehen, dass sich die Schülerinnen und Schüler durch das Projekt deutlich entwickeln – sowohl auf der Persön­lichkeitsebene als auch bezogen auf ihre Basis­kompetenzen. Ein großer Teil der Lehrkräfte erwartet von dem Pro­gramm Impulse für einen wertschätzenden Um­gang mit Kindern in benach­teiligten Situationen. Außerdem solle es dabei helfen, ihre schwierigen Lernausgangs­lagen abzumildern und so für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen.

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