Bildungsbenachteiligung

„Deutschland gelingt es weniger gut als vielen anderen Ländern, soziale Ungleichheit zu kompensieren“

Wie und wo beeinflusst soziale Herkunft den schulischen Bildungserfolg in Deutschland? Schulforscher Matthias Forell beleuchtet im Interview die Hintergründe.

Herr Forell, es ist oft davon die Rede, dass soziale Herkunft Einfluss auf den schulischen Bildungserfolg junger Menschen hat. Was genau verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff?

Matthias Forell: Mit „sozialer Herkunft“ ist vorwiegend der sozio­ökonomische Status der Eltern gemeint. Man betrachtet gerade im Bildungskontext aber auch andere Hintergrundmerkmale von Schülerinnen und Schülern. Also etwa die Familienstruktur, den schulischen beziehungsweise beruflichen Bildungs­hintergrund der Eltern oder den Besitz einer bestimmten Menge an Büchern. Außerdem ist relevant, welche Sprache die Schülerinnen und Schüler über­wiegend zu Hause sprechen, also ob Deutsch die Familiensprache ist oder die Kinder zwei- oder mehrsprachig aufwachsen.

Sie haben gemeinsam mit anderen Forschenden für die Expertise „Woher und Wohin 2024“ der Wübben Stiftung Bildung die Ergebnisse verschiedener Schulleistungsstudien zu­sammengestellt und aus den Untersuchungen Handlungs­empfehlungen abgeleitet. Wieso ist das so wichtig?

Forell: Zunächst wollten wir einen umfassenden Überblick über die vielfältigen nationalen wie internationalen Studien geben und dabei sowohl die verschiedenen Kompetenzbereiche als auch die Befunde im Zeitverlauf berücksichtigen. Bei der Recherche ist uns dann aufge­fallen, dass es eine solche systematische Zusammenstellung bisher nicht gibt. Dementsprechend war es uns wichtig, nicht nur die Ergebnisse der einzelnen Studien nebeneinander­zustellen, sondern diese auch miteinander in Bezug zu setzen und daraus abzuleiten, in welchen Bereichen besonderer Handlungs­bedarf besteht. Vor dem Hintergrund der Qualität unseres Schulsystems stellt sich für mich die Frage, inwieweit es in diesem gelingt, soziale Ungleichheit zu kompensieren, um eine gerechte Verteilung von und Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. Oder reproduziert und verstärkt es sie stattdessen sogar?

Und wie lautet Ihre Antwort?

Forell: Tiefergehende Analysen zu den verschiedenen Herkunfts­effekten, die wir in der Expertise näher beschreiben, zeigen eine mehrfache Benach­teiligung von weniger privilegierten Schülerinnen und Schülern im deutschen Schulsystem. Deutschland gelingt es weniger gut als vielen anderen Ländern, soziale Ungleichheit zu kompensieren. Aus den Studien geht deutlich hervor, dass bestehende soziale Ungleich­heiten im deutschen Schulsystem reproduziert und teilweise sogar noch verstärkt werden.

Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Lukas Zander

Dr. Matthias Forell ist Vertretungsprofessor für Erziehungs­wissenschaft mit dem Schwerpunkt Inklusion an der Uni­versität Osnabrück und war im Auftrag der Wübben Stiftung Bildung maßgeblich an der Erstellung der Expertise „Woher und Wohin 2024“ beteiligt. In seiner Forschung beschäftigt er sich schwer­punktmäßig mit sozialer Ungleichheit im deutschen Schul­system und Bildungs­gerechtigkeit.

Matthias Forell an seinem Arbeitsort an der Universität Osnabrück, wo er aktuell Vertretungs­professor für Erziehungs­wissenschaft ist.
Pingpong: In seinem Büro steht eine Tischtennis­platte. Eine Partie zwischendurch macht den Kopf frei für neue Gedanken.

In der Publikation wird deutlich, dass Kinder mit Migrations­hintergrund in allen schulischen Bereichen schlechter abschneiden als andere. Was steckt dahinter?

Forell: Die Tatsache, dass Kinder zugewandert sind, ist selten die eigentliche Ursache. Der Effekt der Zuwan­derung wird häufig überlagert vom niedrigen sozioökonomischen Status oder dem geringen schulischen oder beruflichen Bildungs­hintergrund der Eltern. Die nicht deutsche Familiensprache spielt dabei ebenso eine Rolle. Das ist nicht nur im Lesen relevant, sondern auch in den anderen Kompetenzbereichen.

Wo macht sich der Effekt von sozialer Herkunft besonders stark bemerkbar?

Forell: Wir haben uns das sehr differenziert angeschaut und herkunftsbedingte Unterschiede sowohl im Primar- und Sekundär­bereich als auch schulform­spezifisch herausgearbeitet. Im Bereich der Naturwissenschaften beispielsweise gibt es, je nach Fach, Kompetenzunterschiede von bis zu vier Lernjahren, die sich auf die sozialen Hintergrund­merkmale der Schülerinnen und Schüler zurück­führen lassen. Dann geht aus der aktuellen PISA-Studie hervor, dass rund ein Drittel der nicht gymnasialen 15-jährigen Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards im Lesen und den Natur­wissenschaften nicht mehr erreicht. In Mathematik sind es sogar 42 Prozent der nicht gymnasialen Schüler­schaft. Diese Anteile sind im Zeitverlauf in allen getesteten Kompetenzbereichen teilweise deutlich angestiegen. Und dass die herkunftsbedingten Unterschiede in der Lesekompetenz seit Beginn der Erhebungen 2001 noch nie so stark ausgeprägt waren wie heute und im internationalen Vergleich besonders hoch sind, ist ebenfalls alarmierend.
Der Schulforscher in der Universitäts­bibliothek „Alte Münze“ – dem zentralen Arbeitsraum für die geistes- und sozialwissen­schaftlichen Fächer.
„Öffnung und Begrenzung des Gymnasiums“ – eine von Forells vielen wissenschaftlichen Publikationen. Im Auftrag der Wübben Stiftung Bildung war er zudem maßgeblich an der Erstellung der Expertise „Woher und Wohin 2024“ beteiligt.

Kinder aus sozial benach­teiligten Familien besuchen – unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten und Leistungen – auch seltener das Gymnasium. Warum ist dies so?

Forell: Wir wissen eigentlich schon seit den 1970er-Jahren, dass Über­gangs­empfehlungen sozial verzerrte Beurteilungen von Leistungsstand und -entwicklung hervorbringen. Zudem entscheiden sich weniger privilegierte Eltern trotz einer Gymnasialempfehlung häufiger gegen den Gymnasialbesuch ihrer Kinder oder setzen sich seltener über eine Real­schulempfehlung nach oben hinweg. Beide Prä­ferenzen sind durch­aus nachvoll­ziehbar, wenn Grund­schullehrkräfte unter anderem auch ihre Einschätzungen zum elterlichen Unter­stützungspotenzial in der weiter­führenden Schule in ihre Empfehlungs­praxis einbeziehen oder Eltern beispielsweise keine Erfahrungen mit der Schulform des Gymnasiums haben.

Trotz aller Benachteiligung kommt es immer wieder vor, dass junge Menschen eine bemerkenswerte schulische und berufliche Karriere hinlegen. Was braucht es dafür?

Forell: Unterstützung – vor allem von Pädagoginnen und Pädagogen im System, aber auch von Menschen aus ihrem Umfeld. Und Vorbilder sind wichtig. Auch eine hohe Resilienz ist hilfreich. Dazu braucht es aber Ressourcen, die Schüler­innen und Schülern mit schwierigen Lern­ausgangslagen ebenso wie Schulen in schwierigen Lagen selten zur Verfügung stehen.

Ein Ziel Ihrer Forschungsarbeit ist ja, Grundlagen zu schaffen, damit sich etwas zum Positiven ver­ändert. Wie hoffnungsvoll sind Sie?

Forell: Wenn man sich anschaut, wie groß und stabil herkunftsbedingte Unterschiede in unserem Schul­system sind, könnte man die Hoffnung fast aufgeben. Dennoch wissen wir relativ gut, wie Bildungs­ungleichheit auch in unserem historisch gewachsenen Schulsystem kompensiert werden könnte. Das geht natürlich nicht ohne Anstrengungen in vielen ver­schiedenen Bereichen und Stufen, die an mancher Stelle auch eines Para­digmenwechsels in unserem Blick auf Schule bedürfen. Die ins­gesamt zehn Handlungs­empfeh­lungen aus den Studien geben hier wertvolle Hinweise.

Zur Expertise:

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