Schulleiterin Barbara Bonney stromert häufig nach Schulschluss vor ihrer Schule herum. Die Abholzeit ist eine gute Gelegenheit, zum Beispiel um eine Mutter anzusprechen, weil ihr Sohn seit ein paar Tagen traurig wirkt. Auf diese Weise kommt Bonney mit Eltern ins Gespräch, die nicht zu jedem Elternabend kommen.
Bonney leitet die Grundschule am Wasser in Bremen, idyllisch gelegen, nah an der Weser. Ein Großteil von Bonneys Schülerinnen und Schülern hat Eltern mit geringem Einkommen, die selbst nicht lange zur Schule gegangen sind. Viele sprechen nicht gut Deutsch. Sie wohnen oft beengt in der Hochhaussiedlung Grohner Düne. Manche haben eine traumatische Flucht hinter sich. Manchen fehlt das Geld, jedem Kind genügend Pausenbrote mitzugeben oder die Stifte zu kaufen, die auch ein Schuljahr durchhalten. In Gremien wie etwa dem Elternbeirat sind diese Eltern selten zu finden. Dort engagieren sich eher die wohlhabenderen Mütter und Väter aus den Einfamilienhäusern, die auch zum Einzugsgebiet der Schule gehören.
Lehrer und Lehrerinnen erleben Eltern oft als Problem. Weil sie in ihren Augen den familiären Teil der Verantwortung – die Erziehung – nicht erfüllen. Und sich zu wenig für den Schulerfolg ihrer Kinder engagieren. Sie lesen ihren Kindern nicht vor und reagieren auf Infobriefe nicht. Oder es ist umgekehrt: Eine Mutter oder ein Vater steht täglich vor der Klassentür oder schreibt eine Mail, mit etlichen Forderungen.
Und auch der Blick der Eltern auf die Lehrerinnen und Lehrer ist manchmal von Misstrauen geprägt: Sie sehen in den Lehrkräften Feinde, die ihren Kindern mit ungerechten Noten die Zukunft verbauen, zu streng oder nicht streng genug sind, mit den falschen Methoden oder die falschen Inhalte unterrichten.
Vielleicht hilft eine Klärung: Was ist eigentlich Aufgabe der Schule? Und was Aufgabe der Eltern? Was müssen Lehrer, was Mütter und Väter ihren Kindern beibringen – und wie können sich beide gut, besser ergänzen?
Erziehung ist das Vorrecht der Eltern
Theoretisch ist die Aufgabenteilung klar: Die Erziehung der Kinder ist das ausdrückliche Vorrecht der Eltern, die Bildung erledigt die Schule. Das ist im Grundgesetz festgeschrieben. Der Staat hat sich in der Erziehung zurückzuhalten. Das ist eine Lektion aus den schlimmen Erfahrungen aus der deutschen Vergangenheit, als Regime Kinder eng an ihre Ideologien binden wollten. Nur wenn Eltern zur Gefahr für ihre Kinder werden, darf der Staat eingreifen. So weit die Theorie.
In der Praxis sind die Grenzen fließend, Schulen müssen auch erziehen, und ohne Eltern gelingt Bildung nicht – ganz besonders in Deutschland. Wer hierzulande ein gebildetes, wohlhabendes Elternhaus hat, hat deutlich bessere Chancen auf einen höheren Schulabschluss. Schon allein deshalb müssen Schulleiterinnen wie Bonney die Eltern ihrer Schüler und Schülerinnen verstehen. Welche Möglichkeiten kann die Familie dem einzelnen Kind bieten, was muss die Schule ausgleichen? Und wie kann man Eltern beibringen, ihren Kindern eine gute Grundlage mitzugeben – ohne sie zu bevormunden?
„Wenn jemand ein sorgen- und belastungsfreies Leben hat, dann hat er oder sie mehr Zeit, über die Entwicklung des eigenen Kindes nachzudenken."
Rita Bovenz, Schulleiterin am Carl-Spitzweg-Gymnasium in Germering
Kampfhubschrauber-Eltern und Observationshubschrauber-Eltern
Erziehung und Bildung seien nie ganz klar zu trennen gewesen, sagt Bonney. „Grundsätzlich ist die Erwartung jedoch immer gewesen, dass die Eltern die Grundlagen legen. Sie erziehen zu Respekt, Ehrlichkeit, einer gewissen Ordnung, Rücksichtnahme und anderen grundlegenden Werten.” Sie sollten zudem dafür sorgen, dass ihre Kinder sich sicher fühlen und Selbstwertgefühl entwickeln können, zum Beispiel bei verlässlichen gemeinsamen Mahlzeiten oder Ritualen vor dem Schlafengehen. Eltern müssten im Blick behalten, dass die Hausaufgaben erledigt werden und der Ranzen gepackt wird. Weil diese grundlegenden Aufgaben aber von vielen Eltern nicht mehr übernommen würden, müsse die Schule immer mehr sozialpädagogische Aufgaben übernehmen – und die Eltern ins Boot holen.
„Diese Eltern haben nur das eigene Kind vor Augen “
Bonney sagt auch, es sei ein großes Missverständnis, dass benachteiligte Eltern sich generell nicht um den Schulerfolg ihrer Kinder kümmern wollten. Die üblichen Veranstaltungen wie Elternabende brächten diesen Eltern nur manchmal wenig, weil sie nicht genug Deutsch verstehen oder glauben, sich nicht gut genug ausdrücken zu können. Manchmal verstünden eingewanderte Eltern gar nicht, dass das deutsche Schulsystem von ihnen Mithilfe verlangt. In manchen Heimatländern regelte die Schule alles, Bildung genauso wie Disziplin oder ein problematisches Sozialverhalten. Bonney erzählt, dann sage eine Mutter nach einem Gespräch nach Schulschluss über fehlende Schulsachen oder Rempeleien auf dem Schulhof: „Darum kümmern Sie sich, oder?“
Rita Bovenz macht an ihrer Schule in Bayern ganz andere Erfahrungen als Bonney in Bremen. Seit sechs Jahren leitet sie das Carl-Spitzweg-Gymnasium in Germering bei München. Eines ihrer Probleme: die sogenannten Helikoptereltern. „Diese Eltern haben nur das eigene Kind vor Augen“, sagt Bovenz. Sie möchten oft über jedes Detail informiert werden, rufen in einigen Fällen kurz nach dem Referat ihres Kindes den Lehrer an, um sich über die Note zu erkundigen, oder einige beschimpfen Lehrkräfte, wenn ihre Kinder schlechte Leistungen zeigten, erzählt sie. Die 61-Jährige unterscheidet unter anderem zwischen „Transporthubschrauber-Eltern, die ganze Schülergruppen irgendwohin fahren“, den „Kampfhubschrauber-Eltern, die sich über Lehrplaninhalte beschweren oder das Mensaessen unmöglich finden“, und „den Aufklärungs- und Observationshubschrauber-Eltern, die Schulbesichtigungen außerhalb der Kennenlern- und Schnuppernachmittage einfordern“. Bovenz beobachtet, dass Kinder dieser Eltern eher weniger selbstständig, dafür „selbstsüchtiger und egoistischer“ seien und ihre Leistungsbereitschaft oft geringer sei. Auch hier, am Gymnasium im wohlhabenden Stadtteil, ist der Bedarf an Erziehungsarbeit also gestiegen.
Sportspektakel als Eltern-Köder
Sie erklärt sich das so: „Wenn jemand ein sorgen- und belastungsfreies Leben hat, dann hat er oder sie mehr Zeit, über die Entwicklung des eigenen Kindes nachzudenken.“ An ihrer Schule gebe es außerdem immer mehr Familien mit nur einem Kind. Das könne zu einer stärkeren Fokussierung auf das Einzelkind führen und eine Überbehütung bedeuten, sagt Bovenz. Sie erlebe aber auch Eltern, die selbst keine schöne Schulzeit hatten und deshalb ihre Kinder vorsorglich beschützen möchten. Zwar seien es nur fünf bis zehn Prozent der Eltern, die derart involviert seien, jedoch koste die Beschäftigung mit diesen vermeintlichen Problemen unnötig viel Zeit. Und das, obwohl bei ihr lediglich die Fälle landen, die weder die Lehrkraft allein noch ihr Kernteam – bestehend aus ihrem stellvertretenden Schulleiter und zwei Mitarbeitern im Direktorat – lösen können.
Die Schulleiterinnen Rita Bovenz und Barbara Bonney haben unterschiedliche Maßnahmen entwickelt, um die Eltern für ihre Aufgaben zu sensibilisieren beziehungsweise Konflikten vorzubeugen. Bonney versucht, an ihrer Grundschule gezielt Anlässe zu schaffen, zu denen die Eltern in die Schule kommen: das Sportspektakel am Ende des Schuljahres etwa. Neu ist der offene Schulbeginn zwischen acht und neun Uhr, eine Zeit, in der ergänzende Angebote Platz finden, für die sonst wenig Zeit ist, wie zum Beispiel Yoga, Schülercoachings oder Werkstattprojekte. „Wenn die Kinder etwas zeigen, kommen auch die Eltern, die sich nicht zum Elternabend trauen“, sagt sie. Auf diese Weise kommen Lehrer und Eltern ins Gespräch, bevor ernsthafte Probleme entstehen. Sie können darüber reden, warum es etwa mit den Hausaufgaben nicht klappt oder das Kind häufig müde ist. Bonney ermutigt bei diesen Gelegenheiten die Eltern, ihren Kindern etwas vorzulesen: „Und wenn sie nur ein Buch in ihrer Sprache besitzen, dann eben immer das gleiche, das stört die Kinder gar nicht“, sagt sie. „Hauptsache vorlesen.“
Auch die Bildungswissenschaftlerin Rubach rät Eltern, zur Schule Kontakt zu halten und informiert zu bleiben – ohne Lehrkräfte mit Einzelheiten zu überfordern. Statt informelle Anlässe zu suchen, würden Eltern und Lehrkräfte oftmals erst dann miteinander sprechen, wenn es um schlechte Noten oder auffälliges Verhalten ginge. „Eltern und Lehrkräfte nehmen sich oft keine Zeit, um gemeinsame Ziele und Erwartungen von Beginn an auszuhandeln“, sagt Rubach. „Wenn beide Parteien strukturiert und reflektiert in diese Kooperation gehen, würde das viele Probleme vermeiden.“
Bonney versucht, Anlässe zu schaffen, zu denen sich unterschiedliche Eltern an der Schule engagieren. Neulich hätten Mütter und Väter einen Kinonachmittag für die Kinder organisiert. Bildungsbürgerliche deutsche Eltern lernen dabei geflüchtete kennen – und handeln miteinander aus, welcher Film schon für Sechsjährige passend ist. „Wir profitieren, wenn Eltern die Schule mitentwickeln, wenn es etwa um neue Projekte und Angebote geht. Und die Kinder profitieren, weil sie sich selbst mehr mit ihrer Schule identifizieren, wenn ihre Eltern das tun”, sagt Bonney. Auch die Schulforschung bestätigt, dass engagierte Eltern die Motivation der Kinder steigern.
Für die Eltern der gerade eingeschulten Erstklässler und Erstklässlerinnen hat Bonney gemeinsam mit dem Quartiersmanagement der Hochhaussiedlung einen Extra-Infonachmittag veranstaltet. In dieser kleinen Gruppe seien die Eltern viel offener gewesen, sagt sie. Ein Vater traute sich zu fragen, was das auf sich habe mit dieser Schultüte. Was kommt da eigentlich rein?
Bovenz setzt an ihrem Gymnasium einerseits auf frühzeitige und transparente Kommunikation auf den Elternabenden, damit weniger Diskussionsbedarf entsteht. Andererseits versucht sie, ihr Kollegium ein wenig vom Druck der Eltern zu entlasten.
Statt Zwischenzeugnissen gibt es in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 zweimal im Schuljahr sogenannte Leistungsstandsberichte mit einer kompletten Notenübersicht in allen Fächern. Das fördert die Transparenz und bietet Anlass, mit der Lehrkraft das Gespräch zu suchen, sagt sie.


Die Schulforschung bestätigt, dass engagierte Eltern die Motivation der Kinder steigern. Aber auch die Schulen selbst profitieren davon. © Wübben Stiftung Bildung/Alexander Scheuber
Aufgabenverteilung als ein Aushandlungsprozess
„Jede Schule hat eine andere Zusammensetzung der Schüler- und Elternschaft. Deshalb ist die Aufgabenverteilung zwischen Eltern und Schule immer ein Aushandlungsprozess”, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Rubach. Dabei geht es nicht nur um fehlende Deutschkenntnisse und Armut wie an der Bremer Schule oder um überbesorgte Helikoptereltern wie in München. „Ein Kind, das einen alleinerziehenden Vater hat und ein Geschwisterchen, muss wahrscheinlich im Haushalt mehr mithelfen als ein Einzelkind, bei dem ein Elternteil nicht arbeiten geht”, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin. Aus diesen verschiedenen Lebenswelten leiten sich unterschiedliche Bedürfnisse und Kompetenzen der Kinder ab, die auch die Schule kennen muss. „Ziel in der Kooperation zwischen Eltern und Schule sollte immer sein, auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes einzugehen und es zu fördern.”
Wenn beide Parteien das schaffen und eigene Vorurteile, Ängste und Ambitionen zurückstecken, kann das Konflikte mindern und den Kindern weiterhelfen. Ganz auflösen lassen sich die wechselseitigen Missverständnisse und Forderungen zwischen Lehrkräften und Eltern aber wohl nie. Dafür sind beide Seiten zu abhängig voneinander. Am Ende vergibt die Lehrerin die Gymnasialempfehlung, und der Vater bringt das Kind rechtzeitig zu Bett – oder eben nicht.
Dieser Artikel wurde zuerst auf ZEIT ONLINE am 27. August 2025 veröffentlicht.

