Porträt

„Das schaffen wir nur zusammen“

Gewalt, Chaos, Angst: Die Bergius-Schule in Berlin wurde zum Synonym für alles, was schiefläuft. Nun soll ein junger Rektor sie retten. Eskalation ist für ihn Alltag.

Engin Çatık hat es eilig. Er läuft aus seinem Büro, die breite Treppe hinunter und stellt sich vor den Eingang in die Aula. Die Sonne strahlt an diesem Morgen im März durch die Fenster, als die ersten Schülerinnen und Schüler in die Fried­rich-Bergius-Schule strö­men. „Guten Morgen”, begrüßt Çatık jeden Einzelnen mit ruhiger Stimme und lächelt freund­lich. „Guten Morgen.” Zwei Jungen geben ihm einen Fistbump. „Ich halte es nicht aus in Französisch”, sagt der eine. „Versuch das nächste Mal, eine Vier zu schreiben. Das schaffst du!”, sagt Çatık. „Herr Çatık! Herr Çatık!”, ruft ein Mädchen außer Atem. „Die gesamte Schule rennt von der S-Bahn-Haltestelle hierher, um nicht zu spät zu kommen.
Ich schwöre!”

Jeden Morgen steht Çatık am Ein­gang der Friedrich-Bergius-Schule, die er seit zwei Monaten leitet. Die Schule ist der Inbegriff von allem, was derzeit an Schulen in Berlin und anderswo schiefläuft. Sie ist eine integrierte Sekundar­schule, eine Berliner Schul­form, in der die Jugend­lichen einen Haupt- oder Realschulabschluss erlangen können. Im vergangenen November hatte das gesamte Kollegium einen Brandbrief an die Schulauf­sicht geschrieben. Von „be­drohlicher Gewaltbereitschaft” seitens der Schülerschaft war darin die Rede, von „Zusammenrottungen” auf dem Schulhof, von einer Angstatmos­phäre unter den Schülerinnen und Schülern, von „1.543 Klassenbuch­einträgen” innerhalb von 38 Schul­tagen, von starker Überlastung des Lehrpersonals und einem sehr hohen Krankenstand im Kollegium. Dann Mitte Januar der zweite Skandal: Ein Siebtklässler der Schule wurde von einer großen Gruppe Jugendlicher gejagt, die Polizei rückte mit einer Hundertschaft an. Anwohner äußer­ten sich besorgt. Infolge­dessen stellte Bildungs­senatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) die damalige Schulleiterin frei. Statt ihrer be­orderte Günther-Wünsch den 38-jährigen Engin Çatık hierher, mit dem Auftrag, „die Schule zu stabilisieren”.

Die Lage der Friedrich-Bergius-Schule ist idyllisch, die Ereignisse an der Schule sind es nicht. Foto: © Jacobia Dahm

Der junge Rektor soll für weniger Gewalt, weniger frustrierte Lehr­kräfte, vor allem wohl aber weniger schlechte Nach­richten sorgen. Es ist eine Mammutaufgabe: Das Bildungs­system ist in der Hauptstadt noch mehr herunter­gewirt­schaftet als in vielen anderen Bundesländern. Die Schulen leiden unter Lehrkräfte­mangel, Miss­management, fehlen­den Investi­tionen. Dazu gibt es eine sehr diverse Schülerschaft. Viele Kulturen und soziale Schichten kommen hier zusammen, dazu eine große Menge Kinder von Eltern, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Es bräuchte ein stark individualisiertes Lehr- und Lernangebot und mehr Personal. Vor Ort schaffen es die Lehrerinnen und Lehrer oft gerade so, den Unterricht durchzuziehen. Oder sie schaffen es eben nicht mehr. Wie hier an der Bergius-Schule. Eine Studie des Wissenschafts­zentrums Berlin kam zum Schluss, dass insbesondere an Sekundar­schulen die Qualität des Unterrichts mit der sozialen Zusammensetzung der Schüler­schaft zusammenhängt. Demnach schneiden Sekun­dar­schulen mit vielen Kindern aus Familien, die etwa Bürgergeld oder Sozialhilfe beziehen, schlechter ab: bei der Unter­richts­gestaltung, der Individualisierung von Lernprozessen und der Beteiligung von Schülern und Eltern an der Schulkultur. Obwohl in Berlin zusätzliche Mittel für solche Schulen fließen. Was kann ein einzelner Mensch „stabilisieren”, wo so viel im Argen liegt?

Hoffen auf das Wunder

Der Fall der Bergius-Schule erinnert viele an einen früheren Schul-Eklat in Berlin. Im Jahr 2006 rief die Lehrerschaft der Neuköllner Rütli-Schule per Brief um Hilfe. Die Haupt- und Realschule drohte, im Chaos zu versinken. Damals wurde die Schule mit großem Auf­wand als Gemein­schafts­schule neu aufgestellt. Sie heißt heute Campus Rütli und gilt als Vorzeigeprojekt. Kann das Çatık hier wiederholen?

Vorzeigbar ist zumindest schon die Optik: Die Bergius-Schule befindet sich im bürger­lichen Ortsteil Friedenau. Kleine Cafés, ein Kino und ein Supermarkt sind fußläufig. Beinahe idyllisch ist der Altbau der Schule, mit einem kleinen Park vor der Pforte, in die Altbauumgebung eingebettet. Der Großteil der etwa 400 Schülerinnen und Schüler der Bergius-Schule wohnt nicht hier. Sie kommen jeden Morgen mit der S-Bahn aus mehr­eren Bezirken Berlins hierher. Und bei etlichen geht es zu Hause weniger idyllisch zu.

Um einen Eindruck davon zu be­kommen, wie groß die Aufgabe des neuen Rektors ist, muss man ihn nur durch einen Tag begleiten. Bereits eine halbe Stunde nach Unter­richtsbeginn bringt ein Lehrer drei Teenagerinnen ins Sekretariat, weil sie sich nicht an seine Anwei­sungen gehalten haben. Der Lehrer wirkt abgebrüht, als er die Mädchen ermahnt, vor dem Sekretariat zu warten. Die drei setzen sich auf die Bank vor der Tür. Sobald der Lehrer das Sekretariat ver­lässt, beginnen sie zu kichern. Çatık öffnet die Tür und fordert die Erste auf, mit ihm mitzukommen. „Lütfen, lütfen, Herr Çatık! Wir haben gar nichts ge­macht!”, sagt sie. „Jetzt komm”, sagt Çatık unbeeindruckt und macht eine Hand­bewegung ins Sekretariat. Sie folgt ihm in sein Büro. Çatık redet der Reihe nach mit jedem Mädchen und bringt sie danach zur Sozial­arbeiterin.

Der neue Schulleiter möchte vieles an der Schule erneuern und etwa Sportangebote zum Auspowern schaffen. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Vera Loitzsch

Schulkrise

Çatık zieht sich eine Jacke über das Sakko und geht auf den Hof. So wie er bei Schulbeginn die Schüler morgens täglich begrüßt, so dreht Çatık in jeder Pause auf dem Schul­hof seine Runden. Kaum hat er den Hof betreten, laufen die Jugend­lichen auf ihn zu. „Herr Çatık! Wann können wir wieder Fußball spielen?”, fragen drei Jungen. „Der Fußball­platz ist noch gesperrt”, erklärt Çatık. Eine Lehrerin kommt auf ihn zu. Schülerinnen und Schüler würden im Unterricht mit Papier­kugeln und Pistazien auf sie werfen, beschwert sie sich. „Wann soll ich dazukommen?”, fragt Çatık und zückt sein Handy, um sich den Termin zu notieren. Plötzlich pfeift er über den Pausenhof. Eine Gruppe Jungen rangelt in der Ecke. Çatık geht da­zwischen, ermahnt die Jugend­lichen. Sie lassen voneinander ab. „Wir brauchen mindestens eine Klimmzugstange, damit sie sich auspowern können”, sagt Çatık. Das stehe auf seiner Liste.

Eskalation als Alltag

In der nächsten Pause erneut eine Rangelei unter Jungen. Wieder ist einer dabei, den Çatık das letzte Mal ermahnt hatte. „Komm mit”, sagt Çatık. Doch der Schüler will nicht hören. „Komm mit”, sagt Çatık erneut mit Nachdruck. „Warum immer ich?”, brüllt der Junge. „Wallah, ich hab nichts gemacht!” Doch er gehorcht dem Schulleiter. Çatık steuert in Richtung Schulgebäude, der Junge folgt ihm unter Protest und Geschrei. Als sie den Eingang erreichen, tritt der Ju­gend­liche mit aller Kraft gegen die Tür. Der Knall hallt über den ganzen Hof. Der Teenager wirkt plötzlich bedrohlich. Çatık bleibt ruhig. Er setzt sich mit dem Schüler in die Aula, redet behutsam auf ihn ein. Der Schüler protestiert noch immer, wird aber ruhiger. Als es klingelt, nimmt Çatık den Jugend­lichen mit in sein Büro zu einem Vieraugengespräch. Nach etwa einer halben Stunde öffnet der Schulleiter die Tür und schickt den Jungen in seine Klasse. „Ich habe ihm noch eine Chance gegeben, um Vertrauen aufzubauen”, sagt Çatık. Über ihn habe es unzählige Klassenkon­ferenzen gegeben, erzählt er. Der Jugendliche habe eine dicke Akte. Çatık weiß aber auch um die Umstände zu Hause: Der Vater sei alleinerziehend und überfordert.

Eskalation ist für Çatık Alltag. Bereits fünf Tage nach seinem Antritt hatte ein 15-Jähriger einem Gleichaltrigen Reiz­gas ins Gesicht gesprüht, weitere Kinder erlitten Atemwegs- und Augenreizungen, eines musste ins Krankenhaus. Der Rektor musste die Polizei rufen und bestellte Eltern und Schüler ein. „Es war eine Grenzüberschreitung”, sagt er. „Ich bin mir sicher, dass er das nicht mehr machen wird.” Es gebe eben diese Fälle, die schwer zu beschulen seien. „Es sind aber nur eine Handvoll.”

Engin Çatık ist in sein Büro im ersten Stock zurückgekehrt. Es sieht aus, als wäre es einst für einen Schloss­herren eingerichtet worden. Der junge Schulleiter mit seinen weißen Sneakern und dem modernen Sakko wirkt, als wäre er in einem Schul­museum zu Besuch (im Schul­gebäude gibt es tatsächlich ein Schul- und Stadtteilmuseum). Vor den auf­gestellten Europa-, Deutschland- und Berlinflaggen steht der Rektorenschreibtisch, den er kaum nutzt. Davor ein langer Tisch, der an eine Tafel aus dem Mittelalter erinnert. Auf dem liegen Ordner und ein Roman von Donna Leon: Wie die Saat, so die Ernte. Dieser Satz ist auch über das Schulportal gemeißelt. In dem Krimi geht es darum, dass ein Kommissar in seine eigene Vergangenheit eintauchen muss, um einen aktuellen Fall lösen zu können. Gewissermaßen passt das: Auch Çatık hat hier viel Vergangenheit um sich – und ein aktuelles Problem.

Der Schulleiter Engin Çatik in seinem Büro. Hinter dem Schreibtisch sitzt er kaum. Foto: © Jacobia Dahm

Wo es an der Bergius-Schule brennt, will der Rektor präsent sein. Was bedeutet, er ist zurzeit immer überall. Er springt vom Telefon ins Sekretariat, zum Hausmeister, zur Schulsozialarbeiterin und wieder an den Computer. Er arbeite zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, erzählt Çatık. „Gerade bin ich Schulpsychologe, Sozialarbeiter und Schulleiter zugleich”, sagt er und reibt sich die Augen. Er wirkt müde: „Ich bin dabei, Strukturen zu schaffen, die mir meine Arbeit erleichtern müssen. Zum Beispiel brauche ich einen Mittelstufen­koordinator. Das halte ich auf Dauer sonst nicht durch.” Er be­mäng­elt, es gebe an der Bergius-Schule keine Strukturen, kaum Verantwort­lichkeiten. Hinzu komme: Die Digitalisierung in der Bergius-Schule steckt in den Kinderschuhen. An der Wand in Çatıks Büro lehnen zwei noch ver­packte Bildschirme, die den Stundenplan und Neuigkeiten im Foyer und im Lehrerzimmer mit einem Klick anzeigen sollen.

„Niemand will auf der schlimmsten Schule Deutschlands sein.“

Engin Çatık hat einen Plan für seine Schule: Zunächst will er vor allem für Aufbruch­stimmung im Kollegium sorgen. Jeden Freitag schreibt er einen Newsletter an die Lehrkräfte, damit sie ihn besser kennenlernen. Jede Woche macht er einen Rundgang durch alle Klassen. Dazu will er den größtenteils musli­mischen Schülerinnen und Schülern das Gefühl geben, gesehen und verstanden zu werden. Statt von Schule spricht Engin Çatık oft von „Schulgemeinschaft.” „Ich liebe diese Kinder”, betont er immer wieder. Er spricht davon, ihnen den Stolz wieder zurückgeben zu wollen. Der sei in den vergangenen Monaten abhandengekommen: „Niemand will auf der schlimmsten Schule Deutschlands sein.” Um den Gemeinsinn zu stärken, plant er ein gemeinsames Fastenbrechen im Ramadan. Für solche Schüler, die im Unterricht nicht still sitzen können, will Çatık ein neues Angebot schaffen, etwa durch Praxislern­gruppen. Schüler­innen und Schüler wären zwei Tage in der Woche im Unterricht, drei Tage in einem Praktikum in einem Unternehmen oder Betrieb. „Im nächsten Schuljahr wird vieles ganz anders”, sagt Çatık. „Da bin ich mir sicher.”

In einem weiteren Schritt möchte er die Schule besser im Viertel ver­ankern. Etwa mit einem Treff für Anwohner und Schüler, bei dem die Jugendlichen älteren Menschen beim Umgang mit Smartphone oder Tablet helfen. Auch einen Wach­schutz hat Çatık für einen ersten Zeitraum beauftragt. „In erster Linie, um den Anwohnern ein Signal zu senden”, sagt Çatık. Sicherheit, eine gemeinsame Schulkultur, ein Teamgeist – auch zwischen der Schülerschaft und den Lehrkräften: „Das schaffen wir nur zusammen.”

Der Junge und der Alte

Diese „Schaffen wir”-Mentalität hat Engin Çatık in diesen Job gebracht. Er kann eine Atmosphäre von Opti­mismus und Verbindlichkeit verbreiten, sodass man ihm gerne vertrauen möchte. Çatık kennt die Verhält­nisse, in denen viele seiner Schülerinnen und Schüler auf­wachsen. Zum einen hat er selbst drei Söhne und bekommt mit, was junge Menschen umtreibt. Çatık hatte aber auch selbst als Junge schwierige Start­bedingungen. Seine Eltern kommen aus der Türkei. Er ist mit wenig Geld groß geworden. Der Vater war lange ab­wesend, seine Mutter alleinerziehend. Trotzdem gelang es ihm, zu studieren und Lehrer zu werden. Vor rund fünf Jahren wurde er überraschend Rektor der Johan­na­-Eck-Schule im Bezirk Tempelhof, die unter anderem wegen Rassismusvorwürfen und Mobbing Negativ­schlagzeilen produziert hatte. Damals überwand er die Gräben im Kollegium und stellte neues Vertrauen zu den Schülern und Eltern her, das brachte ihm den Ruf des Krisenmanagers.

Die Bergius-Schule hat 400 Schülerinnen und Schüler, die meisten kommen aus anderen Stadtteilen hierher. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Als er den Job an der Bergius-Schule annahm, machte er zur Bedingung, dass er seinen besten Mann mitbringen dürfe, seinen lang­jährigen Verwaltungsleiter Axel Jürs. Der 66-Jährige ist gerade in das Büro des Chefs eingetreten. Er hält etliche Dokumente in seinen Händen, die Çatık unterschreiben muss. „Ich bin der Vorstopper, der ihm den Strafraum sauber hält”, sagt Jürs. Er kennt die Tricks der Bürokratie. Jürs weiß, wie er Formulare ausfüllen muss, um Ideen umgesetzt zu bekommen. Gemeinsam mit seiner Frau gründete er 1994 die erste deutsch-italienische Kita mit zweisprachigem und bikulturellem Erziehungskonzept, später arbeitete er unter anderem für eine Kommunal­­poli­tikerin. Als er Çatık 2019 das erste Mal begegnete, war er von ihm begeistert, sagt er: „Er hatte einen klaren Kurs und sein Ziel vor den Augen! Ich hatte das Netzwerk, Erfahrungen und Kon­zepte, die nützlich waren, um den angesteu­erten Hafen zu er­reichen.” Noch sitzt Jürs in einem Büro im dritten Stock, doch das soll sich ändern. Çatık will eine Wand durch das Zimmer ziehen. „Damit er bei mir ist”, sagt Çatık. Der junge Macher und der alte Wisser – so soll es gehen.

Überall packt der 38-Jährige an. Aber das Augenfälligste, was es braucht, um die Herausforderungen im Berliner Bildungswesen zu meistern, wird auch er erst einmal nicht zur Verfügung haben: mehr qualifiziertes Personal. Etwa 45 Lehrkräfte zählt Çatık in seinem Kollegium. Mehr werden es zunächst nicht. Von seinem Kollegium sei er „offen und fair” empfangen worden, sagt Çatık. Allerdings habe eine Lehrkraft vor seinem Antritt als Rektor bereits eine Ver­setzung zum neuen Schuljahr beantragt. Er rechne mit weiteren, sagt er, da es sein könne, dass einige nicht mit seinem Führungsstil einver­standen sind oder möglicherweise keine Lust auf Schulentwicklung haben.

Ein positives Signal

Wenn man Lehrkräfte auf den neuen Chef anspricht, äußern sie sich positiv. Auf dem Flur sagt ein Lehrer, es herrsche Aufbruchstimmung unter den Kolleginnen und Kollegen. Und eine Lehrerin sagt, die Probleme seien zwar nicht weg, aber Çatık greife schnell und verlässlich durch. Das helfe ihr im Arbeitsalltag.

Dafür ist der neue Rektor allerdings auch zu harten Maßnahmen bereit. Einen Schüler hat Çatık bereits mit sofortiger Wirkung von der Schule verwiesen. Der Zettel mit seinem Namen hängt in der Vitrine der Aula. Der Aushang wirkt wie ein Pranger – ein Exempel, das zeigen soll: Es gibt Konsequenzen für gravierendes Fehlverhalten. „Demütigend” sei so ein Zettel hinter Glas, gibt der Schulleiter zu. Er habe sich aber gezwungen gesehen, durchzugreifen. Für einen anderen Schüler, der als unbeschulbar gilt, organisierte Çatık dagegen ein Langzeitpraktikum.

Ein junger Rektor, der mit viel Energie versucht, das Ruder herumzureißen. Der durch­greift, ausgebrannten Lehrkräften neuen Mut gibt und Schülerinnen und Schüler moti­viert zu lernen: Darauf hoffen viele in der Berliner Schulpolitik. Wenn es hier gelingt, dann vielleicht auch an anderen Schulen. Allerdings: Von diesen anderen Schulen gibt es viele – und nicht nur in Berlin. Ende 2023 etwa berichten Lehrkräfte und Schulleitung der integrierten Gesamtschule Büs­sing­weg in Hannover von psychischen und phy­sischen Bedrohungen durch Schülerinnen und Schüler. Demnach kam es zu regel­mäßigen Übergriffen in der Schule und auf dem Schulweg, Unterricht konnte kaum mehr statt­finden. Im selben Jahr beklagten Lehrkräfte der Grundschule Süd­stadt in Halle in einem Schreiben an Sachsen-Anhalts Landes­schulamt unter anderem gravierenden Personalmangel, eine fehlende Schul­leitung sowie die hohe Bereit­schaft von Gewalt unter den Schülerinnen und Schülern. Und Anfang 2024 schlugen Schul­leitungen von mehr als 80 Grund­schulen in Bremen mit einem Schreiben bei der Bildungssenatorin Alarm, um unter anderem auf den Mangel von Schulpersonal und die extreme Über­lastung beim bestehenden Personal hinzuweisen. Wie viele Çatıks wird es brauchen, um dessen Herr zu werden?

Gemeinsames Fastenbrechen verbindet Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern und Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter in harmonischer Atmosphäre miteinander. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Vera Loitzsch

Bis morgen!

Knapp zwei Wochen später, an einem Montagabend, schleppt Engin Çatık Softgetränke und Wasser­flaschen von seinem Auto in die Cafeteria auf dem Pausenhof. Es ist der Abend des ge­meinsamen Fastenbrechens. Çatıks zweijähriger Sohn fährt mit dem Laufrad durch den Raum. Zwei Bankette sind aufgebaut, „Schön, dass du da bist”, steht auf den Servietten auf den Tischen, „Ramadan Mubarak”, hängt in großen bunten Buch­staben an einem Vorhang am Fenster.

Nach und nach trudeln Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte ein. Einige haben Salate, Börek oder Süßspeisen mitgebracht. Çatık begrüßt sie, springt von Tisch zu Tisch. Zwei Mädchen aus der Koch-AG beschäf­tigen währenddessen seinen Sohn. Die rund 80 Plätze sind schnell besetzt. Schüler sitzen neben Lehrern, Schulsozialarbeiter neben Eltern. Pünktlich um 18.20 Uhr eröffnet Çatık das Buffet. Der Schulleiter wirkt ge­lassener als bei den letzten beiden Besuchen. Er macht mit einigen Schülern Witze. „So harmonisch wie heute Abend ist es nicht immer”, sagt Çatık beim Essen. “Ich habe das auch gemacht, damit wir uns alle mal in einem anderen Setting begegnen.”

Draußen ist es bereits dunkel geworden, alle sind satt. Schüler und Lehrkräfte räumen gemeinsam die Tische ab und packen die restlichen Speisen ein. „So lernt man die Kids mal anders kennen”, sagt ein Lehrer zu einer Sozial­arbeiterin, als er sich die Jacke anzieht. „Und auch die Eltern“, fügt ein anderer Lehrer hinzu. Çatık hält seinen Sohn im Arm. Er wird umringt von vier Schüler­innen, die ab­wechselnd dem kleinen Jungen High Fives geben. „Herr Çatık! Herr Çatık!”, ruft ein Teenager am Eingang. Der Schulleiter dreht sich zu ihm. „Ich wollte Ihnen nur sagen: bis morgen!”

Dieser Artikel wurde zuerst auf ZEIT ONLINE am 26. März 2025 veröffentlicht.

Foto: © Helena Lea Manhartsberger

Eser Aktay ist Redakteur im Familienressort von ZEIT ONLINE. Er war 2024 Fellow des Nina Grunen­berg Fellowship, einem Weiterbildungs­stipendium für Bildungs­journalistinnen und -journalisten, das von Publix vergeben und von drei Stiftungen gefördert wird: der Schöpflin Stiftung, der Wübben Stiftung Bildung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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