Talentförderung

„Hier rede ich nur darüber, was ich erreichen will“

Das NRW-Talentscouting hat es sich zur Aufgabe gemacht, begabte junge Menschen aufzuspüren und zu fördern. Ein Schulbesuch in Oberhausen zeigt: Es funktioniert.

Wenn eine 17-jährige Oberstufenschülerin mit leuchtenden Augen erzählt, wie sie die „akademische Welt entdeckt“, ist das nicht unbedingt großer Rede wert. Bei Lamshika liegen die Dinge anders. Als sie sieben Jahre zuvor aus Sri Lanka ins Ruhrgebiet kam, konnte sie sich allenfalls mit Händen und Füßen verständigen. Heute spricht sie nahezu perfekt Deutsch – allerdings so leise und zurückhaltend, als könne sie selbst kaum glauben, wo ihr Weg sie hingeführt hat. Nämlich über Bestleistungen in der Mittelstufe direkt in ein besonderes Förderprogramm: das NRW-Talentscouting. 

Alexandra Steindor von der Hochschule Ruhr West hat Lamshika zusammen mit rund 30 weiteren sogenannten Talenten an der Fasia-Jansen-Gesamtschule in Oberhausen unter ihre Fittiche genommen. Sie findet in Einzelgesprächen heraus, wovon die Jugendlichen träumen, und entwickelt gemeinsam mit ihnen konkrete Pläne für ihre berufliche Zukunft. Erklärtes Ziel der NRW-Talentscouts, die vom NRW-Zentrum für Talentförderung weitergebildet und zertifiziert sind und von den Hochschulen aus zu rund 550 Gesamtschulen, Berufskollegs und Gymnasien in ganz NRW ausströmen: Schülerinnen und Schüler zur Aufnahme einer Ausbildung oder eines (dualen) Studiums zu ermutigen und sie bei dem Weg dorthin zu unterstützen. Im Fokus stehen junge Menschen aus Elternhäusern, die sich oftmals mit dem Bildungssystem nicht oder nicht gut genug auskennen. 

Berufswunsch: Ärztin

Bei Lamshika soll das anders werden. Sie hat einen ehrgeizigen Plan, und sie will diesen nach ihrem Abitur in die Tat umsetzen. „Ich möchte Medizin studieren“, sagt sie – und wäre damit die Erste in ihrer Familie, die sich an eine Hochschule wagt. Ihre Eltern lassen sie selbst entscheiden. „Sie wollen nur, dass ich eine gute Zukunft habe“, erzählt Lamshika. Damit ihre Leistungen stimmen, legt sich die Schülerin kräftig ins Zeug, besucht neben dem Talentscouting zweimal pro Woche Qualifikationskurse für Mathe und Deutsch im TalentKolleg Ruhr Oberhausen und nimmt dort zusätzlich an Workshops teil. 

Dass Lamshika auf ihrem Weg zum Medizinstudium Hürden überwinden und mögliche Umwege in Kauf nehmen muss, verdeutlicht Alexandra Steindor im Gespräch mit ihr anhand vorbereiteter Pappkarten. Denn bei diesem begehrten Studienfach hängt vieles von der Abiturnote ab. „Es gibt aber alternative Möglichkeiten, wenn es nach dem Abi nicht gleich klappt“, sagt Steindor und schiebt die bunten Karten hin und her. „Praktikum“ steht auf der einen, „Freiwilliges Soziales Jahr“ auf der nächsten, „Ausbildung im medizinischen Bereich“ auf der dritten. „Dafür gibt es an vielen Hochschulen Extrapunkte“, erklärt sie und legt die Karten mit allen Optionen nebeneinander. In einem halben Jahr will sie sie noch mal herausholen. „Dann wissen wir, wie deine Noten sind, und erstellen ein Ranking.“

Lamshika lächelt, hört zu, nickt. Ihr bescheidenes Auftreten, sagt Steindor später, sei für viele Talente typisch: „Sie erbringen unglaubliche Leistungen, haben hohe Ansprüche an sich und trotzdem ist ihnen häufig gar nicht bewusst, welches Potenzial in ihnen steckt.Viele der Jugendlichen hätten im Alltag große Herausforderungen wie familiäre Verpflichtungen oder ehrenamtliches Engagement zu meistern. Für eine Berufsausbildung oder die Aufnahme eines Studiums fehlten oft die Vorbilder. Umso beeindruckender sei es dann, wenn manche von ihnen innerhalb kürzester Zeit Deutsch lernen, ihre schulischen Leistungen verbessern oder wie Lamshika sogar in ein Schülerstipendium aufgenommen werden. 

Schülerin Lamshika im Beratungsgespräch mit Talentscout Alexandra Steindor von der Hochschule Ruhr West.

Durch den regelmäßigen und längerfristigen Austausch entsteht Vertrauen – die beste Voraussetzung für eine gelingende Zukunftsberatung.

„Wir beurteilen Leistungen im Lebens­kontext jedes jungen Menschen und überlegen, wem wir mehr zutrauen.“

Alexandra Steindor kennt das berufliche Ziel von Lamshika – die Schülerin möchte Ärztin werden und wäre somit die erste Akademikerin in ihrer Familie.
Um die 30 Talente der Fasia-Jansen-Gesamtschule in Oberhausen nehmen am Talentscouting-Programm teil.

Nicht nur gute Noten entscheiden

Wer ein Talent ist, darüber entscheiden deshalb auch nicht allein gute Noten. „Wir beurteilen Leistungen im Lebenskontext jedes jungen Menschen und überlegen, wem wir mehr zutrauen“, erklärt Steindor. Vor allem an Berufskollegs und Gesamtschulen in sozial herausfordernden Lagen schlummerten viele versteckte Talente. Sie mitzuentdecken, das ist an der Fasia-Jansen-Gesamtschule die Aufgabe von Daniela Kiefer. Feste Kriterien hat die Lehrerin nicht, vielmehr hat sie einen besonderen Blick dafür entwickelt, wer für die Förderung infrage kommt. Mal sind es sozial engagierte Schülerinnen und Schüler, mal solche mit auffallend guten Leistungen, andere wiederum machen durch außerschulisches Engagement auf sich aufmerksam. Schon in der zehnten Klasse und erneut zu Beginn der Oberstufe bespricht Daniela Kiefer mit Kolleginnen und Kollegen, welche Schülerin oder welcher Schüler Potenzial besitzt, und setzt sie beim Talentscouting auf die Liste. 

Einer von ihnen ist Bilal, der als Nächstes am Tisch Platz nimmt und übersprudelt vor Ideen. Mit Bestnoten glänzt der 18-Jährige nicht, künstlerisch jedoch ist er ein Multitalent. Er rappt, tanzt und schauspielert, nimmt an Tanzmeisterschaften und Talentshows teil, nebenbei engagiert er sich in der Schülervertretung. Heute ist er zum dritten Mal bei Alexandra Steindor und erzählt von seinen Auftritten im Jugendtheater. Sorgen bereiten ihm die Noten in den Leistungskursen Deutsch und Geschichte, hier könnte er Unterstützung gebrauchen. Alexandra Steindor berät, nennt Adressen, macht sich Notizen. Am Ende des halbstündigen Gesprächs vereinbaren Steindor und Bilal einen neuen Termin in vier Wochen. Dabei wollen sie über die Möglichkeiten für ein Lehramtsstudium sprechen. 

So intensiv wie Bilal nutzen nicht alle Jugendlichen das Angebot. Manche erscheinen nach dem Erstgespräch lange gar nicht und dann erst wieder kurz vor dem Abi. Andere kommen regelmäßig, sprechen über Unsicherheiten oder fragen nach Angeboten wie Vernetzungstreffen, Persönlichkeits- und Interessentests oder Besuchen an Hochschulen. „Das entscheiden die Jugendlichen individuell nach Beratungsbedarf“, berichtet Steindor.

Studie bescheinigt Erfolg

Dass sich die Teilnahme am NRW-Talentscouting für die Schülerinnen und Schüler auszahlt, zeigt eine Evaluationsstudie im Auftrag des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie hat die Wirksamkeit des Programms auf die Bildungsentscheidungen und -erfolge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer untersucht. Das Ergebnis: Langfristig angelegte Beratungsprogramme wie das NRW-Talentscouting bringen mehr junge Menschen ohne akademischen Hintergrund an die Universitäten. Umgekehrt nehmen Studienberechtigte mit akademischem Hintergrund nach diesen Programmen häufiger eine Ausbildung auf. Das NRW-Talentscouting verringere nicht nur soziale Ungleichheit, sondern verbessere auch die Passung zwischen Potenzialen und Bildungsentscheidungen, so die Studie. 

Für Bilal jedenfalls ist das Talentscouting ein echter Gewinn. „Wenn man jung ist, hat man immer viele Ideen. Hier habe ich aber die Möglichkeit, mich zu fokussieren“, sagt er. Zu Hause sei er abgelenkt, vom Handy, von Familienproblemen. „Hier rede ich nur darüber, was ich erreichen will, und vertiefe mich darin. Das kannte ich vorher gar nicht! Für mich ist das eine tolle Chance, mich zu entwickeln. Ich will einfach etwas aus meinem Leben machen!“

Auch der 18-jährige Bilal – besonders talentiert im musisch-kreativen Bereich – nimmt das CoachingAngebot gern und regelmäßig in Anspruch.

„Wir beurteilen Leistungen im Lebenskontext jedes jungen Menschen und überlegen, wem wir mehr zutrauen“, erklärt Alexandra Steindor.

Lehrkräfte: Den Blick für Talente schärfen

Lehrerinnen und Lehrer, die sich in puncto Talente entdecken weiterbilden möchten, können am NRW-Zentrum für Talentförderung zwischen einem eintägigen Basisworkshop und mehrtägigen Fortbildungen (alle kostenfrei) wählen. Hier lernen sie, wie man Schülerinnen und Schüler mit besonderem Potenzial erkennt und fördert. Talentscouting-Programme gibt es inzwischen auch in Berlin, Hessen und Schleswig-Holstein. Die dortigen Talentscouts werden ebenfalls am NRW-Zentrum für Talentförderung weitergebildet und zertifiziert.

4 Antworten

  1. Ich finde die Möglichkeiten, die uns jungen Menschen geboten werden hervorragend. In vielen von uns, genauso wie Lamshika steckt ein Talent, ein Traum und ein Ziel, welches verfolgt werden muss. Lamshikas Worte sind eine Motivation und eine groß Unterstützung. Vielen Dank für deinen Mut und deine große Mühe, Lamshi😊
    Und mein Dank an Ursula Barth-Modreker und Louisa Stickelbruck 🙂

  2. Ich fand es wirklich gut, dass sie sich mühe gegeben haben solche talente zu finden und vorallem leute die es verdient haben wie Lamshika.

  3. Das NRW-Talentscouting unterstützt Schülerinnen und Schüler dabei, ihre Talente zu entdecken und zu entfalten. Es motiviert sie, aktiver in der Gesellschaft zu sein und umfassende sowie positive Pläne für ihr Leben und ihre Zukunft zu entwickeln.Ich fand diese Reportage sowohl interessant als auch bemerkenswert,was die Schüler geleistet haben.

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