Leistungserhebung

In Deutschland werden Schulleistungen zu wenig überprüft

Welche Leistung erbringen Schülerinnen und Schüler sowie die Schulen selbst? Länder wie Kanada überprüfen dies regelmäßig. Und Deutschland? Ein Gastbeitrag.

In den Landesetats dominieren die Ausgaben für Bildung. Für Nordrhein-Westfalen mit einem Gesamthaushalt von über 100 Milliarden Euro macht der Anteil allein für das Schul- sowie das Familienministerium zusammen rund 30 Prozent aus. Viel Geld, das an Schulen, Kindergärten, die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung geht. Bildung ist längst nicht mehr allein die Aufgabe der Schulen. Und doch zeigt sich am Ende genau dort, ob die wichtigsten Kompetenzen vermittelt werden konnten.

Das von den Bundesländern gemeinsam getragene Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) hat jüngst den Leistungsstand von Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse erhoben: Etwa 30 Prozent der Jugendlichen, die den Mittleren Schulabschluss anstreben, erreichen im Fach Deutsch die Mindeststandards nicht. Ein niederschmetterndes Ergebnis. Wir wissen auch nicht erst seit dieser Studie, dass die Herkunft maßgeblich für den Lernerfolg ist und wir trotz zahlreicher Unterstützungssysteme immer noch keine passenden Lösungen für die sozialen Disparitäten haben.

Studien zeigen immer wieder, dass die Herkunft der Kinder maßgeblich für den Lernerfolg ist. Dafür müssen Lösungen gefunden werden.

„Doch wir verteilen in Deutschland die Ressourcen noch immer viel zu stark mit der Gießkanne.“

Sprachtests im Vorschulalter

Aber einfach nur nach mehr Geld für das Bildungswesen zu rufen greift zu kurz. Denn aktuell fehlt es an der wichtigsten Ressource: den Fachkräften im Kindergarten, in der Schule und im Ganztag, um Kinder und Jugendliche bestmöglich individuell zu fördern. In der insgesamt angespannten Ressourcenlage muss gut abgewogen werden, an welchen Stellen der Bedarf am größten ist, um hier gezielt anzusetzen. Doch wir verteilen in Deutschland die Ressourcen noch immer viel zu stark mit der Gießkanne. Ein Sozialindex wäre ein sinnvoller Einstieg. Er zeigt, wo besonders viele Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch schwachen Familien zur Schule gehen und die Schulen besondere Probleme haben. In einigen Bundesländern gibt es ihn schon.

Das ist ein notwendiger Schritt, denn an Schulen im Brennpunkt erreicht die Hälfte der Schülerinnen und Schüler nicht die Mindeststandards in den verschiedenen Kompetenzen wie etwa Lesen oder Schreiben. Durch das neue Startchancen-Programm für Schulen im Brennpunkt sind alle Länder gezwungen, einen Index zu erstellen – und zu nutzen. Um allerdings beurteilen zu können, ob die zusätzlichen Ressourcen an den Schulen wirksam eingesetzt werden, braucht es Kenntnisse darüber, welche Lernergebnisse die Kinder und Jugendlichen erzielen und welche Unterrichtskonzepte für die unterschiedlichen Gruppen der Lernenden passend sind. Die Heterogenität hat längst alle Schularten erfasst, weshalb neben der Schulebene auch die individuelle Perspektive der Schülerinnen und Schüler von zentraler Bedeutung ist. Über individuelle Lernverläufe wissen wir in Deutschland recht wenig.

Das Klassenzimmer als große Unbekannte? „Über individuelle Lernverläufe wissen wir in Deutschland recht wenig“, bemängelt Dr. Markus Warnke.
Alles verstanden? Digitale Tools, mit denen überprüft werden kann, was die Kinder gelernt haben, gibt es. Sie werden laut Warnke nur zu wenig eingesetzt.

Unterstützungsteams auf kommunaler Ebene

Die an deutschen Schulen gängigen Prüfungsformate wie Klausuren und Facharbeiten geben über die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler nur wenig Auskunft, können Kompetenzstände jedenfalls nicht objektiv abbilden. Tests zur Überprüfung der Kompetenzen und des wirksamen Ressourceneinsatzes in Schule und Unterricht müssen nicht zwangsläufig besonders aufwendig sein. Im kanadischen Alberta, einem der weltweit leistungsstärksten Schulsysteme, werden neben halbjährlichen, zentral organisierten Kompetenztests mehrfach im Jahr kurze, aber aussagekräftige Tests an Schulen eingesetzt.

Die Schülerinnen und Schüler in diesem von Einwanderung geprägten Land sind ebenfalls stark heterogen. Dem Lernen der Sprache wird deswegen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In den kurzen Tests wird das Sprachverständnis genauso überprüft wie die richtige Aussprache und Schreibweisen. Aber die meist digitalen Verfahren werden auch im Bereich Mathematik und in allen anderen Fächern angewendet. So kann nicht nur der individuelle Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler überprüft werden, sondern auch die Wirksamkeit des Unterrichts auf Klassen- und Schulebene. Der Staat kann so wesentlich besser die Lehrkräfte und Schulen unterstützen, was am Ende den Kindern und Jugendlichen zugutekommt. Für alle fachlichen Themen (Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften), aber auch für alles, was für die persönliche Entwicklung der Kinder wichtig ist (etwa die mentale Gesundheit), gibt es auf kommunaler Ebene Unterstützungsteams, die den Lehrkräften in einer Klasse oder an einer Schule helfen. Die Entwicklung der Kinder wird stets als gemeinsame Aufgabe verstanden. Auch in Deutschland gibt es wissenschaftlich fundierte Verfahren zur Ermittlung von Kompetenzen über alle Schulklassen hinweg. Mehrfach in einem Schuljahr könnte mit solchen (digitalen) Tools überprüft werden, was die Kinder gelernt und verstanden haben.

„Bei uns werden vorrangig die Daten geschützt. Offenbar sind die Lebensperspektiven der Kinder gegenüber dem Datenschutz nachrangig.“

Studien wie ein ärztliches Attest

In Kanada führt die kontinuierliche Überprüfung der Ergebnisse zu einem lernenden, sich konsequent weiterentwickelnden Schulsystem auf allen Ebenen. Schülerinnen und Schüler haben eine datenschutzkonforme ID, mit deren Hilfe sich Lernverläufe nachvollziehen lassen. In Dänemark, in dem die gleichen Anforderungen der EU an den Datenschutz gelten wie in Deutschland, gibt es sie auch. Der Datenschutz dient häufig als Alibi, dass das bei uns nicht so geht. Denn bei uns werden vorrangig die Daten geschützt.

Offenbar sind die Lebensperspektiven der Kinder gegenüber dem Datenschutz nachrangig. Über individuelle Verläufe und klassenbezogene Entwicklungen im Laufe eines Schuljahres wissen wir deshalb sehr wenig und können somit auch kaum etwas darüber sagen, welcher Unterricht mit welchen Methoden und Materialien an den unterschiedlichen Schulen wirksam ist. Bereits im Vorschulalter sollte es flächendeckend Sprachtests geben, die eine sich anschließende Förderung ermöglichen. Diese Erkenntnisse sollten dann die Grundschulen nutzen können. Aktuell wissen wir nur, dass am Ende zu wenig rauskommt. Wir lesen die Studien wie ein ärztliches Attest: Wir stellen resigniert fest, dass die Patientin oder der Patient krank ist, nutzen den Befund aber nicht für eine konsequente Anamnese, auf deren Grundlage wir eine gezielte Behandlung vornehmen können. Erst wenn eine Lehrkraft anhand von objektiven Daten nachvollziehen kann, wo die Kinder und Jugendlichen ihre Unterstützung brauchen, können richtige Methoden eingesetzt und überprüft werden.

Kindern und Jugendlichen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, ist nicht nur Aufgabe der Schule. Bildungsangebote müssen besser verzahnt sein.
Neben der Erfüllung der Basiskompetenzen sollten alle Kinder entsprechend ihrer Talente und Potenziale unterstützt werden.

Alle Kinder mit ihren Talenten und Potenzialen unterstützen

Wir wissen auch zu wenig darüber, wie wirksam der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist. Allein diesen Aspekt anzusprechen gilt bei vielen, die dort arbeiten, schon als verpönt. Warum eigentlich? Es geht darum, jungen Menschen Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen, und das ist eben nicht nur das Ziel und die Aufgabe von Schule. Mit der Haltung, dass der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nicht der verlängerte Arm von Schule ist, kommen wir nicht weiter.

An der Schnittstelle der Systeme, im Ganztag, können wir uns ein Nebeneinander nicht leisten. Lehrkräfte schauen oft mit einer gewissen Arroganz auf die Lernangebote am Nachmittag oder die Schulsozialarbeit. Die Freiheit der Träger der Kinder- und Jugendhilfe ist ein hohes Gut und sichert Qualität und Innovationen. Dass diese aber auch einem Zweck dienen und sie nicht allein agieren können, müsste noch stärker durch die Politik eingefordert werden. Hier wären verbindliche Absprachen und konkrete Vereinbarungen nötig.

Es sollten eigentlich nicht die Konsolidierungen der Haushalte sein, die eine genauere Analyse der Ausgaben erfordern, sondern der Anspruch, alle Kinder entsprechend ihren Talenten und Potenzialen zu unterstützen. In Deutschland scheitern wir jedoch schon dabei, die Kinder und Jugendlichen mit den grundlegendsten Kompetenzen auszustatten. Wir müssen den Schulalltag und die Wirksamkeit des Unterrichts stärker und besser analysieren und die Lehrkräfte im zweiten Schritt dabei unterstützen, auf die Bedarfe und Bedürfnisse der Kinder zu reagieren. Eine zielgenauere Unterstützung der Schulen ist genauso notwendig wie eine bessere Verzahnung der Bildungsangebote.

Dieser Beitrag ist exklusiv in der F.A.Z. am 3. November 2023 erschienen.

Foto: © Wübben Stiftung BIldung/Peter Gwiazda

Dr. Markus Warnke ist seit 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung. Zuvor war er im Kinder- und Jugendministerium von Nordrhein-Westfalen sowie als Bundesgeschäftsführer beim Familienbund der Katholiken in Berlin tätig.

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