Abordnungen von Lehrkräften

„Ich kann mir gut vorstellen, hier dauerhaft zu bleiben.“

Die Wiehagenschule in Gelsenkirchen ist auf abgeordnete Lehrkräfte angewiesen. Wie gehen diese mit dem plötzlichen Schulwechsel um? Die Schulleiterin und zwei Lehrerinnen berichten.

Margit Hirtzbruch-Dieker

„Die Abordnungen geben den Kindern die größtmögliche Stabilität, die wir gerade bieten können.“

An unserer Schule besteht schon lange ein großer Mangel an Lehrkräften. Zu Beginn des aktuellen Schuljahres hatten sechs unserer 13 Klassen noch keine Leitung. Früher wurden vor allem Vertretungskräfte wie Lehramtsstudentinnen und -studenten herangezogen, die mit viel Engagement eingesprungen sind. Der Einsatz war sehr gut, aber die Tätigkeit stellte zum Teil eine noch zu komplexe Herausforderung dar. Dank der Abordnungen haben alle Klassen wieder voll ausgebildete Kräfte, die bis zu zwei Jahre lang bleiben. Ich bin sehr dankbar für diese Übergangslösung. Die Abordnungen geben den Kindern die größtmögliche Stabilität, die wir gerade bieten können – und die bestmögliche Unterrichtsqualität. Natürlich bleibt es mein Ziel, ein festes Team aufzubauen. Immerhin erleben manche der Klassen schon den vierten Leitungswechsel im Laufe ihrer Grundschulzeit. Das ist für viele unserer Schülerinnen und Schüler besonders problematisch.

„Sobald die Kinder Vertrauen gewonnen haben, geben sie sehr viel zurück.“

Wir haben hier Kinder, die nie einen Kindergarten besucht haben, keine deutschen Sprachkenntnisse besitzen und deren Eltern in einigen Fällen Analphabetinnen und Analphabeten sind. Manche kamen als Geflüchtete zu uns und sind mit unverarbeiteten Traumata belastet. Wer als Lehrerin oder Lehrer an unsere Schule kommt, der oder dem wird schnell deutlich, wie sehr Bezugspersonen gebraucht werden. Die Schülerinnen und Schüler zeigen, welche Bedeutung es für sie hat, dass jemand für sie da ist. Jedes Mal, wenn eine Klassenleitung geht, ist das ein schmerzhafter Bruch für die Klasse. Es dauert daher immer eine Weile, bis sich die Kinder auf neue Lehrkräfte einlassen. Sobald die Kinder Vertrauen gewonnen haben, geben sie sehr viel zurück.

Um den zu uns abgeordneten Lehrkräften die Eingewöhnung zu erleichtern, nehme ich schnellstmöglich den persönlichen Kontakt auf und lade sie in den Sommerferien zu einem ersten Kennenlernen und einer Schulbegehung ein. Wenn der Schulalltag beginnt und Schwierigkeiten auftreten, versuche ich, so gut es geht, zu unterstützen. Ist zum Beispiel die emotionale und soziale Situation in einer Klasse angespannt, kann ich über Fördermittel spezielle Trainings oder Projekte organisieren, die den Kindern helfen, ihre Gefühle zu regulieren und ihre Kompetenzen im Umgang mit anderen Menschen zu erweitern. So waren schon Theater- und Tanzpädagoginnen bei uns, die Stücke mit den jeweiligen Klassen einstudiert haben, oder Coolness-Trainer, die den Schülerinnen und Schülern Hilfestellungen gegeben haben, wie sie als Klasse positiv miteinander umgehen können. Bei auftretenden Konflikten bin ich für die Lehrkräfte jederzeit erreichbar, um gemeinsam mit ihnen eine Lösung zu finden.

Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Margit Hirtzbruch-Dieker ist seit über zwölf Jahren Grundschulleiterin in Gelsenkirchen und hat seit Anfang 2024 die Leitung der Wiehagenschule inne.

Justine Kasperek

„Ich möchte einfach, dass alle Kinder in Deutschland die gleichen Bildungschancen erhalten.“

Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Justine Kasperek ist seit mehr als 20 Jahren Grundschullehrerin in Nordrhein-Westfalen. Sie wechselte im Sommer 2023 für eine Abordnung vom Münsterland in die Wiehagenschule nach Gelsenkirchen.

Als ich an meiner Stammschule von dem Abordnungsbedarf nach Gelsenkirchen erfuhr, habe ich mich sofort für zwei Jahre freiwillig gemeldet. Ich möchte einfach, dass alle Kinder in Deutschland die gleichen Bildungschancen erhalten. Der Weg dahin, so bin ich überzeugt, führt über die Vermittlung der Sprache. In der vierten Klasse an der Grundschule, zu der ich abgeordnet wurde, sind mehr als zehn verschiedene Muttersprachen vertreten. Jedes Kind kommt mit anderen Deutschkenntnissen ins Klassenzimmer. Das prägt den Schulalltag und den Unterricht. Die Kinder brauchen Input, der sie da abholt, wo sie stehen. Dann fällt es ihnen auch leichter, ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Schon während des Lehramtsstudiums habe ich die Zusatzqualifikation „Deutsch als Zweitsprache“ erworben und erlebt, wie hoch der Bedarf an Lehrkräften mit dieser Kompetenz ist. Deshalb habe ich mich sehr darauf gefreut, mein Wissen an der Wiehagenschule einzubringen.

„Nur wenn die Kinder sich klar ausdrücken können, können sie mir ihre Gedanken und Gefühle mitteilen.“

Im Sommer 2023 begann dann meine Abordnung. Sowohl das Kollegium als auch die Schulleitung empfingen mich warmherzig. Das hat mir den Start ebenso erleichtert wie der Austausch mit der vorherigen Klassenlehrerin, die nun in Elternzeit ist. Für die Schülerinnen und Schüler war es sicher keine einfache Situation, eine neue Leitung zu bekommen. Zumal es nicht der erste Wechsel war, den die Viertklässlerinnen und Viertklässler in ihrer Grundschullaufbahn mitgemacht haben.

Um ihnen Sicherheit zu vermitteln, habe ich von Anfang an einen klaren Schwerpunkt auf die sprachliche Entwicklung der Klasse gelegt – schriftlich wie mündlich. Nur wenn die Kinder sich klar ausdrücken können, können sie mir ihre Gedanken und Gefühle mitteilen und eine Bindung zu mir aufbauen. Dafür verteile ich Arbeitsmaterialien, durch die sie typische Satzbausteine und Redewendungen kennenlernen. Gemeinsam üben wir Gedichte und Sprechchöre. Es ist schön, zu beobachten, wie die Neugierde der Kinder wächst und wie viel Freude sie daran haben, ihren Wortschatz zu erweitern. Ihnen diesen Zugang zur Sprache zu geben empfinde ich als sehr sinnstiftend. Ich kann mir gut vorstellen, hier dauerhaft zu bleiben.

Katja Rodrigues

„So eine Abordnung ist ein großer Sprung, der sehr viel Anpassungsfähigkeit verlangt.“

Während der letzten zwölf Jahre unterrichtete ich an einer Dorfschule, in einem kleinen und beschaulichen Ortsteil von Haltern am See. Mein Fußweg zur Arbeit betrug 400 Meter. Mit der Abordnung nach Gelsenkirchen veränderte sich mein Berufsalltag sehr. Meine bisherige Schule hat den Sozialindex  1. Seit einigen Monaten lehre ich nun an einer Grundschule, die aufgrund ihrer kulturellen Vielfalt und sozialen Realität der Stufe 9 angehört. So eine Abordnung ist ein großer Sprung, der sehr viel Anpassungsfähigkeit verlangt und mich regelmäßig zwingt, Altbewährtes zu überdenken und meine Arbeitsweise den veränderten Gegebenheiten anzupassen. Natürlich ist das zeitintensiv und anstrengend, und es gibt Tage, an denen ich die Sorgen der Kinder und die Konflikte in der Klasse abends mit nach Hause nehme. Es gibt aber auch immer häufiger Tage, an denen ich davon überzeugt bin, hier richtig zu sein.

„Auch wenn ich nicht unbedingt ein Fan der Abordnungen bin, ist mir klar geworden, wie notwendig sie in Zeiten des Lehrkräftemangels sind.“

Von meiner Abordnung nach Gelsenkirchen erfuhr ich unmittelbar vor den Sommerferien. Erst kurz vor Schulstart war klar, an welche Schule ich gehen würde und welche Jahrgangsstufe ich unterrichten sollte. Es blieb also kaum Zeit, sich vorzubereiten. Davon war ich zwar nicht unbedingt begeistert, doch versuche ich stets das Positive an Situationen zu sehen und den zeitlich begrenzten Schulwechsel als eine Art Fortbildung zu betrachten. Das sympathische Kollegium nahm mich freundlich auf und erleichterte mir so den Einstieg.

Der Start mit meiner vierten Klasse war da schon holpriger. Ich stand unter dem Druck, Übertrittsempfehlungen zu schreiben für Kinder, die ich noch gar nicht richtig kannte. Damit ich mir einen Leistungsüberblick verschaffen konnte, mussten die Viertklässlerinnen und Viertklässler, die bis dahin noch nie benotet wurden, in kurzer Zeit viele Klassenarbeiten schreiben. Für solch eine Herausforderung fehlte uns anfangs die Beziehungsbasis. Gemeinsam haben wir es aber geschafft, die Situation zu meistern, und sind daran gewachsen. Nun freue ich mich jeden Morgen darüber, wie liebevoll ich von der Klasse begrüßt werde und wie viel ich von ihr zurückbekomme. Auch wenn ich nicht unbedingt ein Fan der Abordnungen bin, ist mir klar, wie notwendig sie in Zeiten des Lehrkräftemangels sind. Die Kinder brauchen uns, also sollten wir das Beste daraus machen.

Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Katja Rodrigues ist seit 26 Jahren Grundschullehrerin und seit 2002 im Kreis Recklinghausen tätig. Im Sommer 2023 wurde sie für ein Jahr an die Wiehagenschule abgeordnet.

Weitere Informationen zur Maßnahme der Abordnung in NRW finden Sie hier:

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